Der Pfarrer Stetter aus Fürsteneck
Von Frédéric Valin
Ich war noch nie in Fürsteneck, aber die Fotos sehen nett aus. Ein kleines Dorf mittelalterlicher Prägung ganz im Süden des Bayerschen Waldes, viel Grün, die Häuser bunt, ein verwilderter Bahnhof. Idyllisch, möchte ich meinen; im Wirtshaus sind die Speisen sicher zünftig.
Fürsteneck ist nicht groß, hat vielleicht 800 Einwohner*innen, und listet entsprechend auf seiner Website nur drei Ehrenbürger: den Künstler Josef Fruth, einem ehemaligen Oberbürgermeister und den inzwischen verstorbenen Pfarrer Georg Stetter. Der habe sich »stets für die Interessen der Gemeinde Fürsteneck eingesetzt und sich dabei bleibende Verdienste für das Wohl der Gemeinde und der Bürgerinnen und Bürger erworben«, heißt es auf der Seite.
Die Ehrenbürgerschaft wurde ihm 1978 verliehen, neun Jahre nach den Vorkommnissen, die der Spiegel dereinst eine »Säuberungsaktion« genannt hatte. Es sollte nämlich 1969 ein Heim für Kinder mit sogenannter geistiger Behinderung eröffnet werden in Aumühle, das damals noch zu Fürsteneck gehörte. Das passte den Dorfbewohner*innen gar nicht. Am Tag des Einzugs blockierte eine Hundertschaft aus der Gemeinde die Zufahrt zum Gelände, weil, so zitieren die Gerichtsprotokolle einen Anwohner: »Die Depperln woll’n mir hier net.« Angeführt wurde der Mob von ebenjenem ehrenwerten Georg Stetter, der, als der designierte Heimleiter Georg Villain krankenhausreif geprügelt wurde, ganz christlich aufschrie: »Deat’s den Jud’ raus, a solcher g’hört derschlagen!« Tatsächlich floh der Bus mit den jungen Menschen darin an diesem Tag wieder, es sollte anderntags ein neuer Versuch unternommen werden.
In der Nacht aber ging der Dachstuhl des Gebäudes in Flammen auf, obwohl offenbar die Feuerwehr vor Ort war, um genau das zu verhindern. Fritz Loew, der das Kinderheim dort hatte aufbauen wollen, annullierte den Kauf. Stattdessen wurde aus dem Gebäude ein Wirtshaus. Heute, so heißt es auf Wikipedia, sei dort die »Aumühle Freizeitpark GmbH lokalisiert«.
Georg Stetter wurde für seine Rädelsführerschaft bei diesem barbarischen Akt des Landfriedensbruch, den man durchaus auch ein Pogrom nennen könnte, nie verurteilt, im Gegenteil: Er wurde, wie im übrigen fast alle Beteiligten, in allen Belangen freigesprochen. Mit Behindertenfeindlichkeit habe das alles natürlich nichts zu tun, beteuerte er im Prozess. Selbst auf Wikipedia steht heute noch zu lesen: »Nach eigenen Aussagen waren Gegner vor allem wegen möglicher geschäftlicher Einbußen im Tourismus und nicht aufgrund von Animositäten gegenüber Behinderten zu ihrem Tun motiviert.« Stetter starb 2009. In den Nachrufen heißt es, er habe als volksnaher Priester gegolten und sei sehr beliebt gewesen.
Und ich, ich lese jetzt seit sicher 15 Jahren Bücher und Artikel zu diesem Thema und habe von diesem Vorfall noch nie gehört, bis ich Dagmar Herzogs Buch »Eugenische Phantasmen« in der Hand hatte. Zur konkreten Gewalt gesellt sich das Schweigen, gesellt sich die Unwissenheit, gesellt sich die Weigerung zu gedenken und zu erinnern. Diesen November wollte der Bundestag über einen Antrag beraten, um die Forschung über die Opfer der Euthanasie und der Zwangssterilisation zu intensivieren. Stattdessen provozierte ausgerechnet an diesem Tag Christian Lindner seinen Rauswurf, und wir werden wieder warten müssen, bis das Thema auf die Tagesordnung kommt. Das Vergessen hat viele Gesichter, das von Stetter, das von Lindner, das der Bürger*innen von Fürsteneck, die ja gar nichts gegen Behinderte hatten, aber was will man machen, das liebe Geld.