Zunenshtraln über Auschwitz
»The Zone of Interest« könnte der am meisten missverstandene Holocaust-Film aller Zeiten werden
Von Carina Book
Epochal sei er, der »ungewöhnlichste und beste Holocaust-Film, der je gedreht wurde«, ein »Shoah-Schocker« ohne »Holocaust-Kitsch« und äußerst subtil, so die Filmkritiker*innen. So subtil, dass die Mehrheit der deutschen Filmkritik nur sieht, was sie sehen will.
Der Film zeigt das Leben der Familie von Rudolf Höß, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz. Die Kinder spielen im Garten, dahinter steigt Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien auf. Die malerische Kulisse hinter der Lagermauer ist das, was sich Hedwig, die Frau des Lagerkommandanten, erträumt hat. Auch die gellenden Schreie und Schüsse, die aus dem Inneren des Lagers dringen, können Hedwig nichts anhaben. Es ist »unser Lebensraum«, sagt sie.
Rudolf nennt Hedwig »die Königin von Auschwitz«, wie sie ihrer Mutter lachend erzählt. »Da bist du ja richtig auf die Füße gefallen«, schwärmt Hedwigs Mutter und fragt sich, ob die Jüdin, für die sie früher geputzt hat, jetzt im Lager sein könnte. Vor allem aber bedauert sie sehr, dass sie nicht schnell genug war, als sich andere die Vorhänge der jüdischen Frau unter den Nagel gerissen haben, denn sie hätte sie so sehr geliebt. »The Zone of Interest« ist auch die Geschichte des sozialen Aufstiegs dieser Nazi-Emporkömmlinge. Ein kleiner Spaziergang durch die Dahlien, die Pergola muss noch zuranken, aber das wird schon.
Jetzt kann man sich fragen, ob es in diesen Tagen wirklich einen Film braucht, der die Perspektive der Täter*innen zentriert. Regisseur Jonathan Glazer erklärt seine Entscheidung in einem Interview mit der Süddeutschen so: »Üblicherweise erzählen Filme von den Opfern. Wir sollen uns mit ihnen identifizieren, das ist wichtig. Aber wir sollten auch die Täter im Blick haben, sonst machen wir es uns zu leicht. Man vermeidet das gerne, wohl aus Angst, was wir entdecken könnten.«
Doch das scheint für die meisten deutschen Filmrezensent*innen, deren Sehgewohnheiten durch Doku-Dauerbrenner wie »Apokalypse Hitler – Werdegang eines Diktators«, »Hitler und die Frauen«, »Hitlers Manager« oder »Hitlers Stellvertreter« verdorben sind, eine Überforderung zu sein.
Während man Oma und Opa genüsslich beim Gärtnern zuschaut, kann einem einiges entgehen: Das Männermagazin GQ weiß zum Beispiel zu berichten, dass der Film »kein einziges Opfer des Holocaust« zeige. Dass aber Lagerhäftlinge dazu eingesetzt werden, die blutgetränkten Stiefel des Kommandanten zu waschen oder, um mit der Asche verbrannter Jüdinnen und Juden die Rosen zu düngen, während Höß im Wohnzimmer mit Ingenieuren Pläne für ein noch leistungsfähigeres Krematorium bespricht, fällt glatt nicht auf.
Der Film setze auf »anti-empathische Momente«, er »biete keinen Raum für Identifikation und setze immer auf Distanz« hieß es im Deutschlandfunk. Als müsste doppelt unterstrichen werden: Diese Nazis haben mit uns nichts zu tun! Dabei liegt die Stärke des Films genau darin: Sie könnten ich sein, und ich könnte sie sein – so normal, so gewöhnlich. Massenmörder und liebevoller Vater – bruchlos.
Die fehlenden Brüche sehnt sich eine Rezension in der taz herbei: Die schlaflose Tochter von Höß, verstecke heimlich nachts Lebensmittel für Gefangene, wird da gesagt. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein polnisches Mädchen aus dem Dorf neben dem Lager. Egal, unsere Großeltern waren doch alle irgendwie im Widerstand, oder nicht?
Unerwähnt in fast allen Besprechungen des Films bleibt die einzige Botschaft, die aus dem Lager hinter die Mauern dringt: Das polnische Mädchen findet beim Verstecken von Äpfeln eine kleine Metalldose. Darin ein Kassiber, ein Liedtext. Es ist das Lied »Zunenshtraln« von Joseph Wulf, das er 1943 als Häftling in Auschwitz komponiert hat: »Sonnenstrahlen, leuchtend und warm – Menschenkörper, jung und alt. Und wir hier Eingesperrten, unser Herz ist noch nicht kalt. Seelen brennen wie die Sonne – reißen, brechen durch ihren Schmerz. Denn bald sehen wir die flatternde Flagge, die Flagge der kommenden Freiheit.« Joseph Wulf überlebte Auschwitz. Später schrieb er: »Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.«