Tauziehen für eine bessere Ordnung
Vor 50 Jahren forderten viele Staaten eine radikale Veränderung der Weltwirtschaft – was ist davon geblieben?
Interview: Merle Groneweg
Nach der Entkolonialisierung forderten viele sozialistische Regierungen eine neue internationale Weltwirtschaftsordnung. Aus diesem Anlass ist der Sammelband »Die New International Economic Order und die Zukunft der Süd-Nord-Beziehungen« erschienen, an dem Alex Veit als Mitherausgeber und Mariam Salehi als Autorin mitgewirkt haben.
1974 hat die UN-Generalversammlung mehrheitlich für das Programm der New International Economic Order (NIEO), also einer neuen Weltwirtschaftsordnung, gestimmt. Was war Ziel der NIEO?
Alex Veit: Im Zuge der Dekolonialisierung sind immer neue Mitgliedsstaaten hinzugekommen, sodass sich die Mehrheitsverhältnisse in den Vereinten Nationen verschoben haben. So hat der Globale Süden die Gründung der UNCTAD vorangetrieben, der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung. Erster Chef der UNCTAD wurde dann Raúl Prebisch aus Argentinien. Prebisch hatte bereits in den 1950ern errechnet, dass die »Terms of Trade« (Austauschverhältnis, Anm. Red.) für den Globalen Süden auf lange Sicht immer nachteilig sind, wenn sie vor allem Rohstoffe exportieren und industriell gefertigte Güter importieren. Als UNCTAD-Chef hat er ein Programm mit dem Ziel entwickelt, diese »Terms of Trade« auszugleichen, und eben dieses Programm wurde dann von der UNCTAD in die Generalversammlung hineingetragen. Dort haben es viele der neu gegründeten sozialistischen Staaten in Afrika und Asien, aber auch Südamerika und der Karibik, unterstützt. In dieser Periode schaffte es auch die Organisation der erdölexportierenden Staaten (OPEC), einen starken Anstieg des Erdölpreises zu erzwingen, was dem globalen Süden zusätzliche Verhandlungsmacht gegeben hat.
Mariam Salehi. Foto: Alena Schmick
Alex Veit. Foto: Privat
Mariam Salehi und Alex Veit
Mariam Salehi ist Nachwuchsgruppenleiterin am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung an der Freien Universität Berlin. Alex Veit hat bis 2023 an der Universität Bremen in der Politikwissenschaft zu den Süd-Nord-Beziehungen geforscht. Aktuell ist er Redakteur für die sozial-ökologische Transformation bei Table.Media in Berlin.
Ziel der NIEO war, die politische Unabhängigkeit auch in eine wirtschaftliche Unabhängigkeit überzuführen. In welchem Spannungsverhältnis seht ihr die Debatten zwischen eher reformistischen Ansätzen, die für eine bessere Integration in den Weltmarkt warben, gegenüber Überlegungen hin zur radikalen Abkopplung? Der marxistische Theoretiker Samir Amin hat bekannterweise für eben diese Découplage argumentiert.
Mariam Salehi: Die NIEO zielte explizit darauf ab, die durch die Dekolonialisierung entstandenen Verschiebungen im Machtgefüge der Vereinten Nationen zu nutzen und innerhalb der bestehenden Institutionen auf eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung hinzuarbeiten. Es geht, wie es auch in der Einleitung zu dem Sammelband heißt, um einen radikalen Reformismus: den vorhandenen institutionellen Rahmen für eine transformative Umgestaltung zu nutzen. Radikal heißt hier, dass die NIEO strukturelle, nicht nur kosmetische Veränderungen im Süd-Nord-Verhältnis angestrebt hat.
Alex Veit: Ich würde sagen, dass die Debatte um Abkopplung oder Integration eher ein wissenschaftlicher Streit war als eine Debatte, die unter den damaligen Regierenden geführt wurde. Nur sehr wenige Staaten haben beschlossen, sich vom Weltmarkt abzugrenzen. Nordkorea ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie radikal das schiefgehen kann. Den meisten Staatenlenkenden war klar, dass sie für eine erfolgreiche Industrialisierung vom Globalen Norden abhängig sind, zum Beispiel in Hinblick auf technisches Wissen. Aber die NIEO enthielt viele protektionistische Elemente, die darauf abzielten, heimische Märkte zu schützen. So sollten Länder des Globalen Südens in den Norden exportieren können, ohne Zölle zu zahlen, während sie selbst das Recht bekommen sollten, höhe Zölle auf Güter zu erheben, um ihre eigenen Industrien zu schützen. Dieses Konzept ist zum Beispiel in die Abkommen zwischen der EU – beziehungsweise zunächst der Europäischen Gemeinschaft – und den AKP-Staaten, also den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, eingearbeitet worden.
Ein Weg, um das Schuldenregime infrage zu stellen, sind Reparationen.
Mariam Salehi
Trotz kleiner Erfolge wie diesen kam statt der Umsetzung der NIEO jedoch etwas ganz anderes: Auf die Schwächung des OPEC-Kartells und die Abkopplung des Dollars vom Goldstandard in den 1970er Jahren folgten Schuldenkrisen, die schließlich für viele Staaten im Globalen Süden die neoliberalen »Strukturanpassungsprogramme« des Internationalen Währungsfonds nach sich zogen.
Alex Veit: Die größten kapitalistischen Industriestaaten haben ihr Bündnis G7 als Antwort auf die NIEO gegründet und es schließlich geschafft, deutlich geschlossener gegenüber den G77 aufzutreten. Denn letzteres war ja ein sehr heterogenes Bündnis, in dem Länder mit unterschiedlichen Interessen organisiert waren. Das ist etwa an der Ölpolitik sichtbar. Zwar war es ein Riesenvorteil, dass über die OPEC politischer Druck ausgeübt werden konnte. Allerdings haben sich die Ölpreise ja für alle erhöht. Es gab zwar Gespräche darüber, ob Länder aus dem Globalen Süden billigeres Öl von der OPEC kriegen sollten, aber das ist nie realisiert worden. Für jene Staaten, die selbst kein Öl produziert haben, hat dies die Schuldenkrise maßgeblich verschärft. Die Einigkeit im Süden war schwierig aufrechtzuerhalten – es gab zwar viele sozialistische Regierungen, aber zum Beispiel in Südamerika, wo in Chile gerade Pinochet gegen Allende geputscht hatte, auch einen eher westlich orientierten Block. Auch Versuche, ein Schuldnerkartell zu bilden, dass gemeinsam über Rückzahlung und Schuldenerlass verhandeln und so mehr Druck aufbauen könnte, sind immer gescheitert. Stattdessen haben die G7 durchgesetzt, dass die Gläubiger mit allen Schuldnern einzeln verhandeln.
Mariam Salehi: Ein Weg, um das Schuldenregime infrage zu stellen, sind Reparationen. In Tunesien wird zum Beispiel im Zuge des Aufarbeitungsprozesses der Diktatur nicht nur der tunesische Staat für vergangene und vorherrschende physische und ökonomische Gewalt verantwortlich gemacht, die nicht nur gegen einzelne Individuen gerichtet war, sondern breite Teile der Gesellschaft betrifft, sondern auch die Kolonialmacht Frankreich und die internationalen Finanzinstitutionen. Die tunesische Wahrheitskommission, die nach der Revolution eingesetzt wurde, hat folglich auch von diesen Akteuren Reparationen gefordert.
Forderungen nach wirtschaftlichen Reparationen für die durch die Kolonialisierung entstandenen Schäden gibt es heute vermehrt, oder aber auch den bei der Klimakonferenz ausgehandelte Loss and Damage Fund für die Schäden und Verluste infolge des Klimawandels.
Mariam Salehi: Das Reparationsthema wird momentan von unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich verhandelt. Inwiefern geht es um Umgestaltung? Es gibt zwei Möglichkeiten, Reparationen zu denken: Einmal als Linderung und einmal als Anfang der Umgestaltung einer Ordnung. Wenn man sich Reparationen im Kontext von liberalen »transititonal justice«-Projekten anschaut, wird davon ausgegangen, dass die alte Ordnung eigentlich schon weg ist. Beim oben genannten Beispiel der Reparationsforderungen an internationale Finanzinstitutionen geht es wiederum darum, dass erst mal die Ordnung, die immer noch weiter besteht, infrage gestellt wird. Das ist das Moment, wo Reparationen potenziell nicht nur Linderung erreichen, sondern durch eine Delegitimierung der Ordnung zu Wandel beitragen sollen.
Der Loss and Damage Fund bei der Klimakonferenz wird oft unter dem Label »Klimareparationen« verhandelt. Zum einen ist dieser Fonds natürlich ein riesiger Erfolg, andererseits geht es dabei nicht um die Veränderung des Systems. Auch hier geht es dann eher um Linderung, man müsste es ausbauen, sodass es der Anfang sein kann von der Umgestaltung der bestehenden Ordnung.
Wie sieht es heute aus in Hinblick auf Allianzbildung? Die G77 tauchen als Block zum Beispiel bei der Klimakonferenz auf, aber die G7 sind natürlich nach wie vor sehr mächtig.
Mariam Salehi: Ja, allerdings ist auch klar, dass die G7 nicht mehr alleine entscheiden können auf der Welt. Ich denke, da gibt es durchaus eine Verschiebung: Mit dem Globalen Süden muss gemeinsam Politik gemacht werden. Allianzbildung sollte man aber nicht nur auf staatlicher Ebene denken, sondern eher darüber nachdenken, welche unterschiedlichen Akteure für ihre Interessen an einem Strang ziehen können.
Alex Veit: Gegenwärtig sind die G77 als Akteur nicht mehr besonders stark und aktiv. Stattdessen sind die BRICS-Länder als politische Akteure viel dominanter, auch wenn es hier ebenfalls große Interessensdivergenzen gibt. Die BRICS-Mitglieder und auch alle anderen versuchen eigentlich eher situativ, Allianzen zu schmieden, statt sich zu einer einzigen Koalition zusammenzuschließen. Es gibt nicht mehr diesen großen Spirit von Anfang der 1970er Jahre, ein umfassendes Programm wie die NIEO voranzutreiben. Zugleich sind beispielsweise die 2015 von den Vereinten Nationen beschlossenen SDGs, die Nachhaltigen Entwicklungsziele, ein reformistisches Programm, das einen globalen Normenkonsens darstellt. Könnte man die SDGs wirklich durchsetzen, wäre das schon ein Riesengewinn.
Alex Veit, Daniel Fuchs (Hg.): Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung? Die »New International Economic Order« und die Zukunft der Nord-Süd-Beziehungen. transcript Verlag, Bielefeld 2024. 396 S., 29,50€, oder kostenlos als E-Book unter www.transcript-verlag.de und www.degruyter.com.