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|ak 707 | Geschichte

»Wir sind nicht geschichtslos«

Politikwissenschaftler*in Tarek Shukrallah hat einen Sammelband herausgegeben, in dem es um Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland geht

Interview: Bilke Schnibbe

Die Hände zweier Menschen berühren sich. Im Hintergrund eine Person, die von unten in Richtung der Hände schaut.
ADEFRA-Bundeskongress 1987. Foto: Elija Tourkazi / Archiv Schwules Museum

Linke Bewegungen können zum Teil auf eine lange Tradition zurückblicken. Bemühungen, aus vergangenen Strategien und Fehlern zu lernen, kommen immer wieder auf. Politikwissenschaftler*in Tarek Shukrallah hat »Nicht die Ersten« herausgegeben, einen Sammelband über die Geschichten und Kämpfe von Queers of Color, und mit ak darüber gesprochen, warum dieses Buch gerade jetzt so wichtig ist.

Du stellst in deinem Buch Erfolge der schwul-lesbischen Bewegung und die Baseballschlägerjahre gegenüber: Weiße Schwule und Lesben erhalten mehr Rechte, während Schwarze Queers und Queers of Color zunehmender Gewalt ausgesetzt sind. Wie kommt das?

Tarek Shukrallah: Der Moment des Mauerfalls war ein Gelegenheitsfenster für eine schwul-lesbische Bürgerrechtsbewegung zu entstehen, gegenüber der radikalen Schwulenbewegung und Teilen der Lesbenbewegung dominant zu werden, und sich zu institutionalisieren. Am 19. August 1992 fand bundesweit die »Aktion Standesamt« statt, bei der Paare in die Standesämter gingen, mit der Forderung, verheiratet zu werden. Das bekam eine große Öffentlichkeit und war politisch sehr erfolgreich, auch wenn die gleichgeschlechtliche Ehe erst 2017 eingeführt wurde. Demgegenüber stehen die Baseballschlägerjahre. Es ist paradox, dass am 19. August 1992 die Aktion Standesamt war und am 22. August die Angriffe in Rostock-Lichtenhagen losgingen. Das sind zwei Momente, die unsere Bewegungs-Erinnerungen wie wenige andere prägen, die zeitgleich stattgefunden haben, und unterschiedlicher kaum sein könnten.

Damals eskalierten antisemitische und rassistische Gewalt, es herrschte eine regelrechte Pogromstimmung. Die Politik antwortete mit der de-facto Abschaffung des Asylrechts 1992/93 im Asylkompromiss. In der Wendezeit wurde ausgehandelt, wer zum neuen Nationalprojekt dazugehört. Nationalstolz und Deutschtümelei durften wieder offen gezeigt werden, migrantische Communities wurden einer neuen Qualität der Bedrohung ausgesetzt. In dieser Verhandlung konnten bürgerliche Schwule ein Agenda-Setting betreiben, das sich von radikalen Kämpfen und migrantischen Communities abgrenzte. Die Grünen wurden schnell der parlamentarische Arm für diese schwul-lesbische Bürgerrechtsbewegung.

Hat dieser Gegensatz auch damit zu tun, dass diese Bürgerrechtsbewegung bürgerlich ist?

Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Die Schwulen- und auch die Lesbenbewegung der 1970er Jahre war sehr bildungsbürgerlich geprägt. Deswegen gab es zum Beispiel die Interventionen der Prolllesben in den 1980er Jahren. Die Bewegung war weiß und oft auch rassistisch, weswegen zum Beispiel die ADEFRA als Initiative Schwarzer lesbischer Feministinnen als Intervention in Folge der Berliner Lesben-Wochen 1986 entstanden ist. Weil viele Migrant*innen gerade in den Städten als Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland kamen und wenig Zugang zu den Räumen der Schwulenbewegung hatten, waren keine Migrant*innen und People of Color in der Schwulenbewegung der 1970er/1980er Jahre organisiert und weniger sichtbar.

Ab Mitte der 1980er Jahre kam mit der Aidskrise hinzu, dass der Zugang zu Informationen und Präventionsmitteln, um eine selbstbestimmte Sexualität leben zu können, auch abhängig davon war, ob man deutsch spricht und Zugänge zu Community-Räumen hat. Selbstbewusstsein und Scham sind auch Fragen, die krass mit Klasse, Rassismus und Geschlecht verwoben sind. Auch die Frage, wer eigentlich gehört und damit vertreten werden kann, hat eine Klassendimension. Viele Menschen, mit denen ich eigentlich über Queer of Color Bewegungsgeschichten sprechen müsste, sind an HIV/Aids gestorben, und viele Menschen erreiche ich nicht, weil sie klassenmäßig gar nicht an den Punkt kommen zu sprechen.

Foto: Omar Khlif

Tarek Shukrallah

ist Politik- und Sozialwissenschaftler*in, Community-Organizer*in und Autor*in.

Du hast in einem Deutschlandfunk-Interview gesagt, dass sich »rote Linien« bei der Verschränkung von Rassismus und Queerfeindlichkeit von Anfang der 1990er Jahre bis heute durchziehen. Was genau meinst du damit?

Es zieht sich eine rote Linie von Rostock-Lichtenhagen und dem Asylkompromiss 1992/93 zu Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien heute. Eine weitere rote Linie zieht sich von der Aktion Standesamt hin zum Selbstbestimmungsgesetz. Es wird eine Befriedungspolitik in queerpolitischen Fragen betrieben, Minimalforderungen werden dabei zu einem sehr hohen Preis aufgenommen. Wer ist denn schon wieder vom Selbstbestimmungsgesetz ausgeschlossen? Asylbewerber*innen. Wen trifft die Namens-Nachverfolgungsregelung im Selbstbestimmungsgesetz am meisten? Communities, die von Polizierung am stärksten betroffen sind, migrantische Communities. Nur vor dem Hintergrund des Ausschlusses von Schwarzen Menschen und People of Color bekommen diese Gesetze überhaupt eine relative Zustimmungsbasis.

Du würdest also sagen, dass die Erfolge der schwul-lesbischen Bewegung nur wegen den Baseballschlägerjahren möglich waren und das ist eigentlich immer noch so?

Genau, das steht in einem Verhältnis zueinander und es passiert ja auch oft gleichzeitig: Asylverschärfungen werden im selben Frühjahr wie das Selbstbestimmungsgesetz beschlossen. Gleichzeitig spüre ich auch am eigenen Leib, dass Queerfeindlichkeit und Rassismus offener, gewaltvoller und alltäglicher werden. Racial Profiling und die Polizierung migrantischer Orte nehmen zu, es wird die Bezahlkarte eingeführt und in Kriegsgebiete abgeschoben, während ein Selbstbestimmungsgesetz erlassen wird, das Asylbewerber*innen ausschließt und Polizist*innen queere BIPoCs auf der Internationalistischen Pride verdreschen.

»Nicht die Ersten« erzählt aus dem Leben von Menschen, die sich aus der Vereinzelung befreit haben und aus ihren persönlichen und kollektiven Kämpfen berichten.

Du befasst dich ja schon länger mit Bewegungsgeschichte. Das Buch ist auch aus einem Archiv-Projekt entstanden. Warum ist es so wichtig, dass linke Bewegungen und queere Personen of Color und Schwarze Queers ihre Geschichte kennen?

In der Arbeiter*innenbewegung singen wir gemeinsam Lieder und fühlen uns als Teil einer Bewegung, die seit Jahrhunderten für ihre Freiheit und Gerechtigkeit kämpft. Das ist unheimlich machtvoll und setzt unsere Kämpfe mit vergangenen Kämpfen und mit der Zukunft in Beziehung. Es gibt dort Organisationsformen, an die wir anknüpfen. Das gilt für Queer-of-Color-Kämpfe und ihre Organisationen oft nicht. Es scheint so, als seien wir geschichtslos, aber das stimmt nicht. Queers of Color sind wegen der Zusammenwirkung von Rassismus, Klasse und Geschlecht/Sexualität historisch unsichtbar. Umso wichtiger ist es, ein gemeinsames Narrativ zu spinnen, sich selbst zu vergewissern, dass wir nicht allein sind und dass unsere Kämpfe mit denen anderer in Beziehung stehen. »Nicht die Ersten« ist aus der Notwendigkeit heraus entstanden, sich eine Geschichte zu geben. Gleichzeitig erzählt unser Sammelband keine Opfergeschichten, sondern aus dem Leben von Menschen, die sich aus der Vereinzelung befreit haben und aus ihren persönlichen und kollektiven Kämpfen berichten.

Aus der aktivistischen Biografie von Amir Saemian, einem aus dem Iran geflohenen schwulen Linken, lernen wir beispielsweise von den Auseinandersetzungen gegen den Bau der Neuen Flora in Hamburg; und von Jin Haritaworn lernen wir, dass Abolitionismusdebatten in Deutschland ihren Ursprung in radikalen Trans- und Queer-of-Color-Gruppen finden. Wir hören aus dem Leben von Saideh Saadat-Lendle, einer aus dem Untergrund geflüchteten Kommunistin aus dem Iran, die in Deutschland wegweisende lesbische Beratungsstrukturen aufgebaut hat. Wir gehen der Frage nach, wer und was eigentlich »Elders« sind, und wie wir generationenübergreifend liebevolle Bewegungen werden können. Wir erfahren von den politischen Travestieperformances im »Salon Oriental« in den 1990er Jahren, aus dem die bis heute bestehende Gayhane-Party hervorgegangen ist.

Auch von selbstorganisierten migrantischen Aidsberatungen und internationalistischen Schwulenorganisationen in den frühen 1990er Jahren erzählt der Band; von Schwarzen Travestiekünstler*innen, die in den 1990er Jahren in ostdeutschen Städten Kabarett performten; oder von queeren Schwarzen Communityspaces in den frühen 2000er Jahren; und wir lernen vom mutigen Kampf der Schwarzen Lesben im Westdeutschland der 1980er Jahre, die sich dem Rassismus weißer Feminist*innen entgegenstellten. Die Erzählungen eröffnen Perspektiven darauf, dass das Leben auch anders sein kann, wenn wir uns organisieren und verstehen, dass unsere Erfahrungen in einem direkten Verhältnis zueinander stehen in einer Welt, in der wir ausgebeutet und ausgegrenzt werden.

Bilke Schnibbe

war bis Oktober 2023 Redakteur*in bei ak.

Tarek Shukrallah (Hg.): Nicht die Ersten. Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland. Assoziation A, Hamburg 2024. 312 Seiten, 18 EUR.

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