Subalterne und die Befreiung der Geschichte
Der Historiker Ranajit Guha schrieb gegen Kolonialismus und Elitismus an und gab den Anstoß für die Subaltern Studies
Von Jens Kastner
Hegemonie ist ein dynamisches Konzept. Es beschreibt, wie Herrschaft durch Überzeugung der Beherrschten stabilisiert wird. Selbst im kolonialen Kontext, schreibt der kürzlich verstorbene marxistische Historiker Ranajit Guha, kann die permanente Überzeugungsarbeit ebenso wichtig werden wie Zwang und Gewalt. Herrschaft erscheint in dieser Sichtweise nicht nur als sehr dynamisch, sondern auch als »immer und notwendigerweise offen für Widerstand«. Guha formulierte diesen Gedanken 2007 bei einer Tagung in Rom. Er bezog sich damit explizit auf Antonio Gramsci (1891–1937), den wohl bedeutendsten Theoretiker der Kommunistischen Partei Italiens und bis heute Stichwortgeber für verschiedene Ansätze in den Kulturwissenschaften. Guha, damals schon über 80 Jahre alt, hielt seinen Vortrag als Rückschau auf Gramscis Einfluss in Indien. Der 2011 unter dem Titel »Gramsci in India: Homage to a Teacher« veröffentlichte Text weist aber weit über diesen rein geografischen Theorietransfer hinaus. Er vermittelt auch einen Einblick in die Arbeiten einer theoretischen Strömung, dessen wichtigster Protagonist eben Guha selbst war: die Subaltern Studies.
Merkmale der Unterordnung
Guha wurde 1923 in Siddhakati im heutigen Bangladesch geboren. Er schloss sich während seines Studiums der Kommunistischen Partei Indiens an, mit der er später brach. In Kolkata machte er 1946 seinen Studienabschluss, von 1959 bis 1980 lehrte er als Historiker in Manchester und später in Sussex. Bei der Beschäftigung mit dem kolonialen Erbe in Indien entwickelte er gemeinsam mit anderen ab Ende der 1970er Jahre einen besonderen Fokus auf die sogenannten Subalternen.
Auch dieser Begriff wurde, wie jener der Hegemonie, wesentlich von Gramsci geprägt. In seinen Aufzeichnungen während der Haft in Mussolinis Italien, den Gefängnisheften, schrieb Gramsci von den »subalternen gesellschaftlichen Gruppen«. Im Blick hatte er dabei unter anderem jene Bäuer*innen im Süden des Landes, die, anders als das Industrieproletariat in Norditalien, nicht oder kaum politisch organisiert waren. Es fehle den Subalternen daher an »politischer Selbstständigkeit«, meinte Gramsci. Anders als in der Arbeiter*innenbewegung gebe es auch keine konsistente kollektive Geschichtsschreibung. Die Geschichte der Subalternen sei deshalb letztlich »notwendigerweise bruchstückhaft und episodisch«.
Guha greift den Begriff auf und versucht, ihn auf die koloniale und postkoloniale Situation in Indien anzuwenden. Zunächst verwendet er den Begriff aber nicht, um bestimmte Leute wie die Bäuer*innen zu beschreiben. Im Vorwort des ersten, 1982 von ihm herausgegebenen Subaltern-Studies-Readers beschreibt er die Subalternen in einem sehr weiten Verständnis als »Name für die allgemeinen Merkmale der Unterordnung«. Die Unterordnung kann demnach durch Klassen- oder Kastenzugehörigkeit, aber auch durch Alter und Geschlecht bestehen. Die australische Soziologin Raewyn Connell merkt in Southern Theory (2007) deshalb zu Recht an, dass Guhas Begriff der Subalternen weniger dazu dienen sollte, eine bestimmte Gruppe von Menschen als »soziale Kategorie« zu beschreiben, sondern vielmehr dazu, »Machtverhältnisse zu beleuchten«.
Aufstand und Geschichtsschreibung
Guhas Rückgriff auf den Begriff der Subalternen geschah vor allem im Dienste einer neuen Form der Geschichtsschreibung. Diese richtete sich sowohl gegen den »kolonialen Elitismus« der britisch geprägten Geschichte als auch gegen den »bürgerlich-nationalistischen Elitismus« der antikolonialen Staatspolitik. Beide hatten dem bäuerlichen Leben keine Aufmerksamkeit gewidmet. Der antikoloniale Befreiungsnationalismus sei in den Geschichtsauffassungen beider Elitismen bloß als Reaktion der bürgerlichen Eliten auf den britischen Kolonialismus beschrieben worden, wie Guha in »On Some Aspects of the Historiography of Colonial India« betonte. Dabei blieben letztlich nicht nur die Bäuer*innen, sondern auch die Privilegien der Bourgeoisie und ihre Kollaborationen mit dem Kolonialregime ausgeblendet. Guha kritisierte das als »unterdrückerische Tatsache« (»oppressive fact«).
Demgegenüber wollte Guha den eigenen Beitrag der Menschen zur Geschichte hervorheben, den diese unabhängig von den Konzepten und Praktiken der Eliten entwickelten. Es ging letztlich darum, die Politik der Menschen (»politics of the people«) in ihrer relativen Eigenständigkeit wertzuschätzen. Er geht von der Existenz »subalterner Politik« aus, die sich, anders als die Politik der Eliten, horizontal und spontan und nicht vertikal und kontrolliert realisiere. Es habe immer Bereiche im »Leben und Bewusstsein« der Menschen gegeben, die nie in die Hegemonie der Bourgeoisie integriert worden seien. »Dominance without Hegemony« (1997) heißt deshalb eines seiner Hauptwerke. Diese nicht bestehende Hegemonie delegitimiere die Bourgeoisie, auch die antikoloniale, erst recht, für die ganze Nation oder eine Gesellschaft zu sprechen.
In seinem Buch »History at the Limit of World-History« (2002) formulierte Guha sein Ziel rückblickend damit, Geschichte aus der Sicht derjenigen zu schreiben, die aus der an Hegels Geschichtsauffassung geschulten »Weltgeschichte« ausgeblendet wurden. Nicht nur der Gegenstand von Geschichtsschreibung sollte damit verändert werden. So wurde etwa der Fokus auf die Geschichte der Bäuer*innaufstände statt auf Parteien- und Intellektuellengeschichte gerichtet. Auch die Perspektive sollte eine andere sein. Sie sollte vom Globalen Süden ausgehen und dort von lokalen, aus dem Alltag der Menschen entstandenen Kämpfen. Ausgehend von den Geschichten aus dem Alltagsleben der Menschen sollte die Geschichte aus ihrer »Eingrenzung in die Weltgeschichte gerettet« werden.
Die Geschichtsschreibung selbst wird damit letztlich zu einer Fortsetzung der Bäuer*innenaufstände mit anderen Mitteln. In diesem Sinne hat Raewyn Connell deshalb auch ihr Unterkapitel zu dessen theoretisch-historiografischer Intervention mit »Ranajit Guha’s Insurgency«, »Ranajit Guhas Aufstand«, betitelt. Dieser doppelte Anspruch von Beschreibung und Intervention prägte in den Jahrzehnten seit 1982 die verschiedenen Forschungen der Subaltern Studies. Damit sind zum einen die von Guha selbst mitbegründeten South Asian Subaltern Studies gemeint; in den 1990er und 2000er Jahren gab es zum anderen aber auch eine Latin-American-Subaltern-Studies-Gemeinschaft, die die Anliegen Guhas auf den Subkontinent anwandte. Auch die Postcolonial Studies verdanken Guhas Gramsci-Rezeption und dem Versuch, den Subalternen-Begriff auf koloniale Strukturen und Praktiken anzuwenden, nicht wenig – wie zuletzt der Kulturwissenschafter Ingo Pohn-Lauggas in einer aktuellen Veröffentlichung zu Gramscis Schriften zum Thema Südfrage und Subalterne (2023) betont hat.
Zweifel und Rezeption
In Guhas geschichtstheoretischer Haltung ist deutlich ein antiautoritärer und gegen politische Avantgardevorstellungen gerichteter Impuls zu sehen, der auch die Neue Linke der 1960er Jahre geprägt hatte. Zugleich aber erneuerte Guha auch das starke Vertrauen in die emanzipatorische Kraft der »einfachen Leute«, der popularen Sektoren oder des »Volkes«, wie es über das gesamte 20. Jahrhundert alle Formen des Antiimperialismus gekennzeichnet hatte (und bis heute kennzeichnet). Dementsprechend beschreibt auch noch die Herausgeberin des Latin American Subaltern Studies Reader (2001), Illeana Rodríguez, »subalterne Geschichte« als eine Art und Weise, Unregierbarkeit »als Aufstand, Ungehorsam oder Undiszipliniertheit« zu denken.
In Guhas geschichtstheoretischer Haltung ist deutlich ein antiautoritärer und gegen politische Avantgardevorstellungen gerichteter Impuls zu sehen, der auch die Neue Linke der 1960er Jahre geprägt hatte.
Dass Guha in »On Some Aspects of the Historiography of Colonial India« auch betont hatte, dass die Aufstände von Bäuer*innen, Arbeiter*innen und städtischem Kleinbürgertum häufig zu fragmentiert blieben, um zu einer »nationalen Befreiungsbewegung« zu werden, kann als leiser Zweifel an beiden Grundannahmen gelesen werden: an der Avantgardekritik, weil diese zerstreuten Kämpfe vielleicht doch der vereinenden Führung bedürfen, und am Vertrauen in die Volksmassen, die trotz Eigensinnigkeit eben keine emanzipatorische Einheit herzustellen vermochten.
Dieser leise Zweifel wurde später dann von anderen lauter gedreht: Die bekannteste Kritik am Konzept von Guha stammt wahrscheinlich von der postkolonialistischen Theoretikerin Gayatri C. Spivak. Sie hatte in ihrem vielzitierten Aufsatz »Can the Subaltern Speak?« (1988) die Selbstverständlichkeit infrage gestellt, mit der Guha und andere davon ausgehen, dass die Subalternen ihre Version der Geschichte überhaupt erzählen können. Nicht weil sie nichts zu sagen hätten, mangelt es den Subalternen möglicherweise an Artikulationsfähigkeit. Sondern weil es eine koloniale Beschaffenheit des Wissens gibt, eine »epistemische Gewalt«, wie Spivak es nennt, die verhindert, dass sie gehört werden. In Übereinstimmung mit Guha kritisierte Spivak zwar auch die »westlichen« linken Intellektuellen für ihre protokolonialistische Haltung, die häufig vorgaben, für die Armen und Ausgegrenzten zu sprechen. Vom »Beharren auf einer feststehenden Vitalität« eines subalternen Bewusstseins »voller Autonomie«, das Guhas Forschungen getragen hatte, grenzte sich Spivak allerdings ab.
Ranajit Guha, der nach Aussage seiner Frau Mechthild Guha bis zuletzt »gut gelaunt« war, lebte in Purkersdorf bei Wien und starb am 28. April 2023. Knapp einen Monat später, am 23. Mai, wäre er 100 Jahre alt geworden. Für die post- und dekolonialen Debatten war das Werk Guhas grundlegend. Bis heute liefert es zahlreiche Anknüpfungspunkte.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der österreichischen Zeitschrift Tagebuch