Schöner zu lesen als das Original
Stephanie Barts Roman »Erzählung zur Sache« ist konsequent aus der Perspektive der RAF-Gründerin Gudrun Ensslin geschrieben
Von Peter Nowak
Längst vergangen scheinen die Zeiten, als an jedem Bahnhof Fahndungsplakate mit den Konterfeis gesuchter RAF-Mitglieder hingen. Offiziell war natürlich von »Terroristen« die Rede. Auch viele Linke, die keinerlei Sympathien für die RAF und ihr Umfeld hegten, weigerten sich damals, diesen Begriff zu verwenden. 25 Jahre nach der Auflösung der RAF wird auch in linken Medien im Zusammenhang mit der RAF fast nur noch von Terrorismus gesprochen. Ein Begriff, der in Stephanie Barts Roman »Erzählung zur Sache« nicht vorkommt. Denn er ist konsequent aus der Perspektive von Gudrun Ensslin geschrieben, die neben Ulrike Meinhof und Andreas Baader zu den Gründer*innen der RAF gehörte.
In einer Erklärung der Autorin heißt es: »Alle in diesem Roman enthaltenen strafrechtlich relevanten Beleidigungen und Verunglimpfungen von Personen der Zeitgeschichte, lebenden oder toten, sowie Aufforderungen zu strafbaren Handlungen, und was sonst nach Strafgesetzbuch strafbar ist, sind entweder, dem literarischen Verfahren entsprechend, nicht gekennzeichnete wörtliche oder bearbeitete Zitate der RAF oder repräsentieren deren Position.«
Die besondere Stärke des Romans liegt darin, dass es Bart gelingt, die gesellschaftliche Atmosphäre der frühen 1970er Jahre einzufangen. Los geht es mit dem Kapitel »Heidelberg, Mai 1972«, in dem die RAF Anschläge auf das US-Hauptquartier in Heidelberg verübt. Von dort aus wurden die Bombardements und Luftoperationen der USA im Vietnamkrieg koordiniert. Diese heute fast vergessene Tatsache formuliert die Autorin in der Sprache und Diktion der RAF: »Rote Armee Fraktion auf roten Appellplatz Byebye Campbell-Barracks Sieg im Volkskrieg, es lebe der Vietcong.«
Stephanie Bart schildert detailliert Ensslins Kampf gegen die Totalisolation.
Die Diktion der RAF ist eine besondere: »Natürlich hätte die Rote Armee Fraktion, anstatt jedes Gespräch mit Gleich- und Ähnlich-gesinnten im Keim zu ersticken, sprechen lernen, zusammenarbeiten und auch mal Erklärungen schreiben können, die man gerne las«, heißt es an einer Stelle des Romans, in dem auf insgesamt rund 670 Seiten Erklärungen der RAF, Briefe von Gefangenen und Aussagen, die sie vor Gericht gemacht haben oder machen wollten, literarisch verarbeitet werden.
So lesen wir, wie Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Andreas Baader im sogenannten Stammheim-Prozess mitten im Satz vom Richter unterbrochen werden. Wir lesen die Interventionen der Rechtsanwält*innen. Manche Rededuelle enden damit, dass der Richter den Anwält*innen oder Angeklagten das Mikrofon abschaltet. Später werden sowohl die Gefangenen als auch einige ihrer Vertrauensanwält*innen vom Prozess ausgeschlossen. Der Prozess wird dennoch fortgesetzt. Dafür sorgen Sondergesetze, die von der Bundesregierung in einer ganz großen Koalition aller damals im Bonner Bundestag vertretenen Parteien im Eilverfahren durchgepeitscht wurden, damals als Lex RAF bezeichnet.
Bart schildert überdies detailliert Ensslins Kampf gegen die Totalisolation und für die Durchsetzung minimalster Rechte hinter Knastmauern. Wir erfahren von Hungerstreiks und Zwangsernährung, die die Gefangenen in höchste Lebensgefahr bringen, und wir erfahren vom Tod Holger Meins. Die massiven, auch militanten Proteste, die daraufhin auf den Straßen der BRD und auch in anderen westeuropäischen Ländern stattfanden, schildert die Autorin mit der Zeitverzögerung und dem Filter, mit dem Ensslin im Gefängnis davon erfährt.
Denn entgegen der Hoffnung der Staatsapparate ist der Kampf der RAF mit der Verhaftung der Gründer*innen nicht zu Ende. Immer wenn es neue Aktionen der RAF gibt, werden die Haftbedingungen der Gefangenen verschlechtert, Anwaltsbesuche erschwert, Radios aus den Zellen entfernt und Zeitungen einbehalten. Was diese Zensur für die Gefangenen bedeutet, schildert Bart anschaulich am Beispiel eines Briefes, den Ensslin an Baader schreibt, der ihn aber nicht erreicht. Dann lesen wir von den Beschwerden, mit denen Ensslin auf die Zensur reagiert. Dann ging der Brief verloren und Ensslin verfasste einen neuen, und die Prozedur begann von Neuem.
Ein solcher Roman, der konsequent aus der Perspektive der radikalen Linken jener Zeit geschrieben ist, geht auch davon aus, dass Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Andreas Baader keinen Selbstmord verübt haben. Der fiktive Einschub, in dem Bart ein Szenario ihrer Ermordung entwickelt, ist der schwächere Teil des Buches. Seine Spannung entwickelt der Roman aus der literarischen Verarbeitung des historischen Materials, das der 1965 geborenen Autorin auch deshalb so gut gelingt, weil sie in den 1980er Jahren in Hamburg Politikwissenschaft studiert hat. Damals waren politisch wache Menschen auch immer mit der RAF und ihren Texten konfrontiert. Sie mögen oft nicht schön zu lesen gewesen sein. Für Barts literarische Verarbeitung allerdings gilt das keineswegs. Es ist zu hoffen, dass sich viele Menschen auf die gewiss nicht leichte linke Zeitreise einlassen.
Stephanie Bart: Erzählung zur Sache. Roman. Secession Verlag, Berlin 2023. 680 Seiten, 28 EUR.