»Wir sind die Wächter dieser Erinnerungen«
Die Überlebenden, nicht die Mörder von Srebrenica müssen in den Mittelpunkt rücken, sagt Hasan Hasanović
Interview: Sophie Tiedemann
Im Juli 1995 begingen serbische Nationalisten den Genozid von Srebrenica. Systematisch ermordeten sie mehr als 8.300 Bosniak*innen. Tausende begaben sich auf den so genannten »Todesmarsch« nach Tuzla, um den serbischen Truppen zu entkommen. In Srebrenica steht heute das Srebrenica Memorial Center, das an die Verbrechen und dessen Folgen erinnert. Hasan Hasanović leitet dort das Oral History Projekt.
Du bezeichnest dich als Überlebenden von Srebrenica, nicht als Opfer.
Hasan Hasanović: Ich mag das Wort »Opfer« nicht. Opfer sind für mich hilflos und bemitleidenswert. In dieser Position sehe ich mich und die anderen Überlebenden nicht. Ich habe die letzten 27 Jahre gut auf mich aufpassen können, habe mir ein Leben aufgebaut und sorge für mich selbst. So geht es den meisten anderen, die diesen Genozid überlebt haben, auch.
Hasan Hasanović
ist Leiter des Oral History Projektes für das Srebrenica Memorial Center, das die Erinnerung an die Ermordeten und ihre Angehörigen hochhält. Er überlebte den Todesmarsch und verlor seinen Vater und seinen Zwillingsbruder im Genozid. Er ist außerdem Autor des Buches »Srebrenica überleben«.
In Testimonials beschreiben die Menschen im Oral History Projekt ihr Leben vor dem Krieg: in einem sicheren Land, in glücklichen Familien. Wieso habt ihr euch dazu entschieden, euch nicht nur auf den Genozid zu konzentrieren, sondern auch die glücklichen Biografien aus der Vorkriegszeit zu erzählen?
Als wir an den Vorbereitungen für unsere ersten Interviews saßen, war es uns wichtig, die gesamte Erfahrung der Überlebenden zu erfassen – nicht nur die Jahre des Krieges. Wir wollten an dem Punkt anfangen, an dem die Person geboren ist und im Hier und Jetzt aufhören. Ich denke, dass jeder einzelne Aspekt eines Lebens zählt. Wenn heute Besucher*innen des Memorial Centers diese Geschichten anhören, dann sollen sie wissen, dass diese Überlebenden glücklich waren, Träume hatten, in ihren Familien verwurzelt waren. Das war vor dem Krieg, in einem anderen Land – in Jugoslawien. Und von da aus müssen wir begreifbar machen, wie es möglich ist, dass dieses glückliche Leben sich zwar nicht über Nacht, aber innerhalb eines extrem kurzen Zeitraums in einen Krieg verwandelt. Das hätte sich so niemand vorstellen können. Nationalismus war, außer in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn, immer ein Tabuthema. Und insbesondere für jüngere Generationen ist es heute schwierig, sich dieses Leben vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens vorzustellen. Zu verstehen, wieso Menschen Jugoslawien liebten, wieso Tito eine solch wichtige Rolle spielte. Und wie sich dann mit Kriegsbeginn die eigenen Nachbarn, zu denen man immer eine gute Beziehung hatte, plötzlich begannen zu verändern. All das erzählen die Überlebenden in unseren Interviews. Und das ist auch schon alles, worum es bei Oral History geht: Wir hören zu, bringen nichts Eigenes ein.
Ist es schwierig, Protagonist*innen zu finden, die ihre Geschichte mit euch teilen wollen?
Das ist leider die größte Herausforderung. Manche sind kamerascheu, andere denken, sie werden nicht gut genug erzählen, wiederum andere haben Angst, dass sie nach der Aufnahme sterben werden oder dass ihnen im Nachgang etwas zustößt – so traumatisiert sind sie. Viele haben auch die Sorge, dass sie nach dem Erzählen nicht mit ihrem Alltag fortfahren können, dass es ihr Trauma wieder an die Oberfläche holt. Und ein anderer Grund dafür, dass viele eher zurückhaltend auf unsere Anfragen reagieren, ist, dass sie sich fragen: »Wieso zählt meine Geschichte jetzt plötzlich? Wieso hat es all die Jahre niemanden interessiert?« Und trotzdem finden wir immer wieder Überlebende, die sich bereit erklären, ihre Geschichte zu teilen. Sie sehen es als ihre Verpflichtung an – im Dienste derer, die ermordet worden sind und im Dienste des Narrativs, das zukünftigen Generationen erzählt wird. Manche finden darin auch den Sinn ihres Lebens. Sie sagen: »Das ist der Grund, wieso ich überlebt habe. Um diese Geschichte erzählen zu können.« Wir sind die Wächter dieser Erinnerungen. Und wir werden sicherstellen, dass sie auf die richtige Art und Weise genutzt werden.
Euer Archiv bewahrt auch die persönlichen Erinnerungsstücke der trauernden Angehörigen auf: Familienfotos, Zigarettenhalter, alte Schulzeugnisse. Was bewegt sie dazu, ihre teils letzten Andenken an das Memorial Center zu spenden?
Menschen, die während des Bosnienkrieges in ihrem Zuhause bleiben konnten, konnten ihre Erinnerungsstücke bei sich behalten. Das gilt aber nicht für uns, die wir im belagerten Srebrenica lebten und schließlich flüchten mussten. Die allermeisten nahmen überhaupt keine persönlichen Gegenstände mit. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Wäre man von der bosnisch-serbischen Armee gefangen genommen worden, hätte man für ein einfaches Familienfoto getötet werden können: Sie hätten ein Verhör gestartet über den Verbleib aller männlichen Personen auf dem Foto. Und genau diese Angehörigen rannten währenddessen durch den Wald, um ihr Leben zu retten. Es ist wirklich ein großes Wunder, dass Menschen es überhaupt geschafft haben, persönliche Erinnerungsstücke aus Srebrenica mitzunehmen. Diese Artefakte für die Zukunft zu bewahren, ist unglaublich wichtig. Ich versuche, alle davon zu überzeugen, ihre Erinnerungsstücke an das Memorial Center zu übergeben. Dort sind sie für alle Ewigkeit in Sicherheit, niemand kann sie einem mehr wegnehmen.
Niemand kann sagen: »Das hat nichts mit mir zu tun.«
»Stellt die Überlebenden in den Mittelpunkt der Geschichte, nicht die Mörder«, das bildet die Grundlage eurer Arbeit mit Oral History …
Als Karadžić und Mladić noch frei herumliefen, berichteten so viele verschiedene Medien über sie und erzählten davon, wie sie ihre Leben lebten nach dem Krieg. Dadurch wurden sie humanisiert. Sie, die Tausende Menschen entmenschlicht und durch ihre Entscheidungen in den Tod geschickt haben, bekamen die gesamte mediale Aufmerksamkeit. Anstatt die Plattform Überlebenden zu geben, die solch unglaubliche Resilienz gezeigt haben, Menschlichkeit, und Mut. Im Memorial Center geht es nur um sie: Wir beleuchten ihre individuellen Lebensgeschichten, ihre Emotionen. Denn wenn man von Srebrenica erzählt, sollte immer zu allererst an die Überlebenden gedacht werden. Ihre Geschichten zeichnen wir nicht aus eigenem Interesse auf. Wir tun das auch nicht für das Land Bosnien. Wir tun das für die gesamte Welt. Per Definition ist Genozid ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gegen jedes Individuum, das diesen Planeten bevölkert. Das macht es zu einer universellen Geschichte. Niemand kann sagen: »Das hat nichts mit mir zu tun«.
Genozidleugnung fängt mit dem Minimieren der Opferzahl an und endet mit Geschichtsrevisionismus, der den Genozid von Srebrenica historisch legitimiert. Wie kann man euch dabei unterstützen, die Erinnerung an Srebrenica zu bewahren und den Leugner*innen nicht das Feld zu überlassen?
Der Genozid von Srebrenica sollte in Schulen und Universitäten thematisiert werden. Wir vom Memorial Center freuen uns immer, wenn wir dabei helfen können. Wenn also jemand Geschichten von Überlebenden braucht, dann stellen wir dieses Material immer gerne zu Bildungszwecken zur Verfügung. Wir können den Kampf gegen Genozidleugnung nur gemeinsam führen. Außerdem sammeln wir all diese Geschichten nicht, um sie einzusacken und hinter verschlossenen Türen zu verwahren. Wir wollen sie nutzen, am liebsten international. Eben gerade, weil wir sehen, dass sich viele Dinge wiederholen.
Worauf beziehst du dich?
Damals war es Bosnien, heute ist es die Ukraine. Die Dinge entwickeln sich dort auf eine sehr ähnliche Weise. Nur, dass im Fall von Bosnien islamophobe europäische Politiker*innen dafür sorgten, dass uns nicht geholfen wurde. Die Ukraine wird jetzt von der halben Welt bewaffnet. Und genau so sollte es sein! Als unabhängiges Land hat sie schließlich das Recht, sich zu verteidigen. Ich bin gegen Waffen und gegen Krieg. Ich habe noch nie eine Waffe angefasst und hoffe, das bleibt bis ans Ende meines Lebens so. Aber wenn Länder angegriffen werden, dann müssen sie sich verteidigen dürfen. Das Memorial zeigt, wie die Dinge sich entwickeln können, wenn Politiker schrittweise auf die Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe hinarbeiten.
Zahlreiche Überlebende haben ihre Geschichte mit dir geteilt. Ist dir eine davon besonders in Erinnerung geblieben?
Eine Überlebende erzählte mir, wie sie von den Niederländern aus dem Quartier der Vereinten Nationen geschmissen wurde. Sie wusste schon, dass ihr kleiner Bruder von ihr getrennt werden würde. Sie sah ihn an und sagte: »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so verängstigte Augen gesehen. Diese Augen wussten, dass sie innerhalb der nächsten zwei Stunden sterben würden.« Ab diesem Moment traute sie sich nicht mehr, ihren kleinen Bruder anzugucken. Als sie also aus dem Stützpunkt rausliefen, geordnet in Zweierreihen, fragte sie einen Freund, ob dieser sich neben ihrem Bruder einreihen könne. Sie selbst lief einige Meter hinter den beiden. Uns erzählte sie: »Ich hätte es nicht ausgehalten, ihn anzusehen, während er von mir getrennt wurde. Ich wusste, dass ich nichts mehr für ihn tun können würde.« Dann meinte sie: »Es ist nicht richtig, dass ich weiterleben durfte, während ihm das Recht auf Leben genommen wurde. Vielleicht wäre alles anders ausgegangen, wenn ich mehr geschrien hätte.« Rational wusste sie, dass sie nichts hätte tun können. Aber sie wird die Schuldgefühle nicht los. Diese Dinge sind universell – man kann sie auf jeden Genozid dieser Welt anwenden.