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Sozialdarwinistische Gegenwart

Kernmerkmal eugenischer Politik ist der Wille, Personengruppen gleichzeitig zu konstituieren und ihnen aktiv zu schaden – trifft das auf den staatlichen Umgang mit Corona zu?

Von Frédéric Valin

Plakat für Corona-Schutzmaßnahmen auf Demos. Ein stilisiertes Virus mit einer Maske und dem Text "Mund-Nase-Bedeckung tragen". Ein Pfeil, das in zwei Richtungen zeigt und dem Text "1,5 Meter Abstand halten". Ein Symbol einer Desinfektionsflasche und dem Text "regelmäßig Hände desinfizieren" und einem Thermometer mit dem Text "Symptome? Risikogruppe? Lieber Zuhause bleiben"
Sehr früh schon hatte sich eine Differenzierung der Bevölkerung zwischen Risikogruppen und einer nicht näher bezeichneten ungefährdeten Mehrheit durchgesetzt. Foto: bennobild / Flickr /Wikimedia , CC BY-SA 2.0

Am diesjährigen Gedenktag der Shoah schrieb die Politik-Analystin Nikkole Hughes, sie sei als Halb-Jüdin und als behinderte Person wütend, weil die Corona-Politik in den USA nichts anderes sei als Eugenik. Das Gedenken, so Hughes, sei vorgeschoben, weil sich das nächste Unrecht direkt vor aller Augen zutrage und aus der Geschichte nichts gelernt worden sei.

Im deutschsprachigen Raum hat bisher nur der Schweizer Medizinhistoriker Flurin Condra vor einem eugenischen Einschlag in der Gesundheitspolitik gewarnt. Er ist deswegen harsch kritisiert worden, auch weil Eugenik im hiesigen Diskurs in direkte Verbindung mit dem hunderttausendfachen Morden an behinderten Menschen ab 1939 in Verbindung gebracht wird. Die euthanasischen Vernichtungsaktionen scheinen ob ihrer Brutalität und Unmenschlichkeit den Blick auf aktuelle Gesundheitspolitiken zu verstellen. In anderen Ländern mit eugenischer Tradition – insbesondere den USA – werden die Kontinuitäten hingegen offener diskutiert.

Eugenik bezeichnet ursprünglich die Wissenschaft, biologisch Anlagen zu beeinflussen, um dadurch einen »besseren« Menschen zu kreieren. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es absurd, die aktuelle Corona-Politik eugenisch zu nennen, weil inzwischen alle Maßnahmen aufgehoben wurden und gleichzeitig nicht nur bekannt ist, dass eine Covid-19-Infektion potenziell unfruchtbar macht; es ist auch klar, dass ein unbekannter Prozentsatz an Infizierten über einen längeren Zeitraum behindert sein wird. Sozialdarwinistisch wäre augenscheinlich der richtigere Ausdruck: Der Infektionsdruck siebt aus, was nicht mehr gebraucht wird unter diesen neuen (»natürlichen«) Gegebenheiten, die das Virus hergestellt hat.

Die Denkschule der Eugenik hat ihre Anfänge Mitte des 19. Jahrhunderts, Charles Darwin war einer ihrer ersten Verfechter. Wie viele Eugeniker*innen seiner Zeit, war auch Darwin Lamarckianer (er glaubte also an die Vererbung von Eigenschaften), was der Eugenik von Beginn an einen moralischen Charakter gab: Es ging nicht darum, durch Krankheiten verursachtes Leid zu minimieren, sondern bestimmte Verhaltensweisen und damit auch Menschengruppen einzuhegen. Francis Galton, ein Cousin Darwins, prägte schließlich den Begriff der Eugenik. Dafür unterteilte er die Menschen in Geschlecht, Rassen und Klassen und wies ihnen unterschiedliche Nützlichkeiten zu.

Für Darwin waren Moral und Mitgefühl hervorstechendste Beweise für die fortgeschrittene Evolution des Menschen: Seine Lösung für einen weiteren Fortschritt war damit die Geburtenkontrolle bei Marginalisierten. Gleichzeitig argumentierte er etwa gegen die Pockenimpfung, weil durch diesen Schutz auch Menschen mit schwächerer Konstitution überlebten und sich fortpflanzten.

Mittel und Ziele

Die Eugenik versprach in ihren Anfängen einen »besseren« zukünftigen Menschen. Sie ist damit Kind eines fortschrittsgläubigen Jahrhunderts, in dem man überzeugt davon war, durch wissenschaftliche Erkenntnisse die Zukunft positiv gestalten zu können. Dieser Ansatz unterscheidet sich fundamental von der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage, die sich selbst zwar auch als krisenhaft begreift, aber einen Status Quo gegen alle für eine Zukunft notwendigen Maßnahmen verteidigt. Unter dieser Prämisse ist es schlüssig, den eugenischen Anteil politischer Entscheidungen nicht auf ihr Ziel, sondern auf ihre Mittel zu befragen.

Es scheint sinnvoll, zwischen aktiv eugenischen Maßnahmen und strukturell-passiven, Eugenik begünstigenden Maßnahmen zu unterscheiden. Zu ersterem gehört neben den (in Deutschland seit 2003 verbotenen) Zwangssterilisationen auch die medizinische Indikation als Voraussetzung für eine Spätabtreibung auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche. Zu zweiterem gehört zum Beispiel die Heiminfrastruktur, in die Menschen mit Behinderung hineinsegregiert werden und die unter anderem dazu führt, dass zwar nicht mehr standardmäßig Sterilisationen vollzogen werden, stattdessen aber eine Kontrolle möglicher Sexualpartner*innen und lebenslange Verhütung durch Dreimonatsspritzen praktiziert wird.

Das Individuum verblasst hinter Kategorien und Strukturen, die eingeführt wurden; es wird aktiv ignoriert.

Ohne die generationenübergreifende Ebene bleibt als zentraler Bestandteil der Eugenik die Idee des Aussiebens der als schwach Markierten. In dieser Hinsicht ist die aktuelle pandemische Gesundheitspolitik ohne Fragen eugenisch: Sehr früh schon hatte sich eine Differenzierung der Bevölkerung zwischen Risikogruppen und einer nicht näher bezeichneten ungefährdeten Mehrheit durchgesetzt. Dabei wurden Risikogruppen in erster Linie medizinisch (über Vorerkrankungen) markiert. Diese Nomenklatur ermöglichte es, den sogenannten »Schutz der Risikogruppen« nicht als das zu bezeichnen, was er faktisch war: eine Segregation.

Dieses Aussieben ist intersektional: Risikofaktoren für eine schwere Erkrankung sind Armut, Behinderung und Geschlecht. Mit Aufgabe aller Schutzmaßnahmen, insbesondere der Isolationspflicht im Falle einer Covid-Infektion, gelten als Krankheitsanzeiger inzwischen nicht potenzielle Überträger*innen, sondern schwere Verläufe.

Vorsatz und Inkaufnahme

Kernmerkmal eugenischer Politik ist ihr Wille, Personengruppen gleichzeitig zu konstituieren und ihnen aktiv zu schaden; »aktiv« bedeutet den Unterschied zwischen Vorsatz und Inkaufnahme. Wenn man aber Modelle hat, die diese Inkaufnahme vorhersagen, ist man dann nicht schon im Vorsatz? Man meint nicht diese eine konkrete Person, die dann sechs Wochen am Beatmungsgerät hängt, das ist klar; man will nicht das Individuum auslöschen. Das Individuum verblasst nur hinter den Kategorien und Strukturen, die eingeführt wurden; es wird gar nicht mehr wahrgenommen oder aktiv ignoriert.

Die Strukturen sind sehr konkret, insbesondere die Heiminfrastruktur. Diese weitestgehend abzuschaffen hat Deutschland zwar versprochen, als es 2009 die Behindertenrechtskonvention ratifizierte. Seitdem wird es aber regelmäßig von der UN gerügt, weil es die Inklusion nicht umsetzt.

Die Kategorien sind ein Sammelsurium medizinischer Diagnosen und dienen vor allem der Vereinzelung der Risikogruppen. Risikofaktoren wie Sammelunterkünfte beispielsweise wurden nicht abgeschafft. Im Gegensatz zu anderen Ländern wurde ihn Deutschland wieder die Präsenzpflicht von Schulkindern eingeführt, was die Durchseuchung nach schwedischem Beispiel garantierte.

In der Geschichte hat sich eugenische Politik nie als umfassender Plan manifestiert, sondern stellte meist eine Mischung aus wissenschaftlichem Narzissmus, institutionellem Herdentrieb, staatlicher Mittäterschaft und gesellschaftlicher Indifferenz dar. Selbst bei den verschiedenen T-Aktionen zur Ermordung sogenannten lebensunwerten Lebens hat es nie ein Gesetz gegeben, das einem Befehlsnotstand nahekäme: nur einen Brief vom 1.9.1939, in dem Adolf Hitler Anstrengungen zu diesem massenhaften Morden guthieß. Niemand wurde bestraft, weil er oder sie sich dem widersetzte, trotzdem standen die Vernichtungsanstalten mitten in Deutschland. Nach Kriegsende wurden die Täter*innen nur dann angemessen verurteilt, wenn ihr Prozess bis 1947 abgeschlossen war. Selbst Führungsgremien von Behindertenrechtsorganisationen wurden – wie bei der Lebenshilfe – mit Leuten wie Werner Villinger besetzt, die per Federstrich Tausende Menschen in den Tod geschickt hatten. Eine Aufarbeitung des Euthanasieprogramms unterblieb bis Mitte der 1980er Jahre vollständig und ist auch seither nur sehr schleppend vorangekommen.

Der einzige Schutz, den Risikogruppenmitglieder noch haben, ist die Selbstabsonderung von der Gesellschaft (sofern ihnen diese Absonderung erlaubt ist). Damit ist die Pandemie-Politik hinter das 19. Jahrhundert zurückgefallen, das Infektionen da bekämpfen wollte, wo sie stattfinden, und ist zurück zu der Vorstellung gekommen, dass nicht die Infektion bekämpft werden muss, sondern ihre Auswirkung auf Statistiken. Insofern muss man in Bezug auf unsere Gegenwart von einer Neo-Eugenik sprechen, der es nicht um eine bessere Zukunft geht, sondern um einen Statuserhalt des Jetzt.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er (endlich wieder!) die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.