Soldatische Männer
Die Freikorpsbewegung vor 100 Jahren und die bewaffneten Nazis von heute
Von Claus Kristen
Pure Verzweiflung bemächtigte sich der Obersten Heeresleitung im November 1918. Nach dem verlorenen Krieg hatte die große Masse der heimkehrenden Frontsoldaten kein anderes Ziel als sich möglichst schnell von der Front zu entfernen und nach Hause zurückzukehren. Der letzte Funke an militärischer Begeisterung war erloschen. Die höchste Führung des Heeres befand sich in einem Machtvakuum. Wie sollte der sich rasant ausbreitenden Rätebewegung mit ihren Forderungen nach Sozialisierung und Demilitarisierung entgegengetreten werden?
In dieser Situation kam es überraschend schnell zu einem Bündnis zwischen der alten Militärelite und führenden Sozialdemokraten, dessen berühmtestes Beispiel der sogenannte Ebert-Groener-Pakt war. (ak 642) Das gemeinsame Ziel, trotz aller sonstigen weltanschaulichen Differenzen, bestand darin, einen grundlegenden Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verhindern. Als militärisches Mittel musste man sich nun, mangels regulärer Einheiten, der vielerorts gegründeten Freikorpsverbände bedienen.
Als Freikorps wurden paramilitärische Einheiten bezeichnet, die sich außerhalb der offiziellen Heeresstruktur bildeten. Sie standen unter dem Kommando ihres jeweiligen Führers und sprossen nach den revolutionären Ereignissen im November 1918 wie Pilze aus dem Boden. Ihre genaue Anzahl ist nicht bekannt, es dürften ca. 120 Verbände gewesen sein bei einer Gesamtstärke zwischen 250.000 und 400.000 Personen, es wird auch die Zahl von 365 Verbänden gehandelt. Exakte Angaben sind erschwert, da eine starke Fluktuation bestand. Die jeweilige Mitgliederzahl lag zwischen 33 (Freikorps Groß-Thüringen) und 40.000 Mann (Garde-Kavallerie-Schützen-Division).
Seit Oktober 1918 diskutierte die Oberste Heeresleitung angesichts des zerfallenden Heeres die Aufstellung solcher Freikorps. Viele ältere Offiziere waren von dieser Idee wenig angetan, widersprach sie doch den militärischen Gepflogenheiten. Besonders die Verpflichtungsdauer (ein Monat) und Kündigungsfrist (14 Tage) erschien ihnen geradezu abstrus. Doch ein Hilferuf des Oberbefehlshabers Ost aufgrund zunehmender Auflösung der Truppe forcierte schließlich die Gründung der Freiwilligenverbände.
Die Zusammensetzung der Freikorps war heterogen. Natürlich gab es in ihnen viele Offiziere und ehemalige Frontsoldaten, die in der »Heimat« keinen Boden mehr unter den Füßen fanden. Hinzu kamen Studenten und Gymnasiasten sowie landsknechtsartige Söldner, Kriminelle und Leute, die auf die relativ hohe Entlohnung erpicht waren. Die Besoldung erfolgte durch Reichsregierung, Reichswehr und Industrielle; ein Hauptfinancier war der großindustrielle Kriegsprofiteur Hugo Stinnes.
Der Geist der Freikorps hingegen lässt sich eindeutiger bestimmen. Er war erfüllt vom Kampf gegen Bolschewismus und »Spartakus« bei gleichzeitiger Verachtung des Bürgertums, von Nihilismus und Führergefolgschaft. Hierzu gehörte auch das »Fronterlebnis« selbst bei denen, die gar nicht an der Front waren, wie etwa die Schüler und Studenten. Verzweiflung über den verlorenen Krieg und die als »knechtend« empfundenen Bestimmungen der Siegermächte kamen hinzu.
Viele Freikorpsführer hatten sich ihre militärischen Sporen in den deutschen Kolonialgebieten erworben. Genannt seien nur die Bekanntesten: Paul von Lettow-Vorbeck, Franz Ritter von Epp, Georg Maercker, Hermann Ehrhardt. Hier hat die Historiographie noch einiges aufzuarbeiten. So betrachtete z.B. Maercker die afrikanische Schutztruppe als ideale kriegerische Ausbildungsstätte: »Auch für Afrika gilt der Satz, dass das rücksichtsloseste, schonungsloseste Vorgehen auch wieder das gelindeste, weil am schnellsten wirkende ist« – eine Aussage, die kurz und radikalisiert als Parole über Goebbels‘ Sportpalastrede 1943 prangte: »Totaler Krieg – kürzester Krieg«.
Freikorps im Einsatz
Ihren ersten größeren öffentlichen Auftritt hatten die Freikorps während der Januaraufstandes 1919 in Berlin (fälschlich als »Spartakusaufstand« bezeichnet). Allerdings war die Schlacht bereits von Resten regulärer Truppen geschlagen, sodass es sich in erster Linie um eine Machtdemonstration handelte. In diese Zeit fiel die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Der Hauptakteur hierbei war Waldemar Pabst, Erster Generalstabsoffizier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die als frühere reguläre Heereseinheit den Status eines Freikorps erlangt hatte.
Kurz darauf begann auf Anordnung des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) der offene Feldzug der Freikorpsverbände. Anfang Februar 1919 marschierten ein regulärer Truppenverband der Reichswehr (Division Gerstenberg) und das Freikorps Caspari in Bremen ein, obwohl die dortige Räteregierung bereits ihren Rücktritt sowie die Abgabe von Waffen angekündigt hatte. Schätzungen gehen von bis zu 75 Toten und 175 Verletzten infolge der Kämpfe aus. Im Ruhrgebiet sorgte das Freikorps Lichtschlag, das aufgrund besonderer Brutalität auch als »Freikorps Totschlag« firmierte, für »Ordnung«. Das Freiwillige Landesjägerkorps des Generalmajors Maercker besetzte nacheinander Gotha, Halle, Magdeburg, Braunschweig, Leipzig, Eisenach, Erfurt, Suhl und Bitterfeld. Im März massakrierten Freikorpsverbände etwa 2.000 Menschen in Berlin. Hier erließ Gustav Noske unter dem Einfluss von Waldemar Pabst (Garde-Kavallerie-Schützen-Division) seinen berüchtigten »Schießbefehl«: »Jede Person, die mit den Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.« Klaus Gietinger hat darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um »Standrecht«, sondern um gar kein Recht mehr handelte – ein präfaschistischer Vorbote des »Kommissar-« und des »Barbarossa-Befehls«, der bereits in den Kolonialgebieten und im Ersten Weltkrieg an der belgischen Zivilbevölkerung erprobt worden war.
Anfang Mai 1919 marschierten die Freikorps Epp, Lützow, Oberland, Garde-Kavallerie-Schützen-Division und die Marinedivision Ehrhardt in München ein, beendeten die dortige Räteherrschaft und hinterließen weit über 1.000 Tote. Im Juni waren es das Freiwilligenkorps Lettow des Paul von Lettow-Vorbeck und Reichswehrtruppen, die gegen Lebensmittelunruhen in Hamburg (die sogenannten »Sülzeunruhen«) einschritten; dort gab es etwa 80 Tote.
Das Bündnis zerfällt
Auch in den östlichen Grenzregionen – Polen und dem Baltikum – wüteten Freikorpsverbände. Fernab jeglicher Regierungskontrolle konnten sie ungestört Gewaltexzesse veranstalten. Es ereigneten sich eklatante Fälle von Insubordination – z. B. wurde ernsthaft die Gründung eines neuen deutschen Oststaats diskutiert. Die Charakterisierung als »landsknechtsartige Soldateska« kam diesen Verbänden am nächsten.
Die republikanische Reichsregierung hatte sich für ein Zweckbündnis mit den reaktionären Kräften des Militärs entschieden. Durchaus waren – entgegen der Meinung vieler, auch sozialdemokratischer Historiker – Alternativen vorhanden. So wurde vom Rat der Volksbeauftragten im Dezember 1918 ein »Gesetz zur Bildung einer freiwilligen Volkswehr« beschlossen, das vollkommen im Sande verlief. Auch die Gründung einer regierungsloyalen »Republikanischen Soldatenwehr« wurde durch das Zusammenspiel mit Reichswehr und Freikorps regelrecht unterlaufen.
Dieses Bündnis konnte nicht von Dauer sein. Der Wendepunkt kam vor allem durch die Forderung der Siegermächte im Versailler Vertrag, die Heeresstärke auf 100.000 Soldaten zu beschränken und die paramilitärischen Verbände abzuschaffen. Während einige Freikorpsverbände in die neue Reichswehr eingegliedert wurden, standen andere vor dem existenziellen Nichts. Als Gustav Noske dann Ende Februar 1920 zwei Freikorps offiziell auflöste, war es die davon betroffene Marinebrigade Ehrhardt, welche sich Kapp und Lüttwitz zum Putsch bereitstellte und in Berlin einmarschierte.
Kurz nach dem misslungenen Staatsstreich allerdings rief die Reichsregierung nochmals Freikorpsverbände zu Hilfe, die vor allem im Ruhrgebiet den »weißen Terror« entfalteten. Dann war formal ihr Ende gekommen. Doch organisierten sie sich weiterhin in paramilitärischen Einheiten wie Stahlhelm und SA oder gingen in den Untergrund. Bekanntestes Beispiel für Letzteres war die aus der Marinebrigade Ehrhardt entstandene »Organisation Consul«, deren prominenteste Opfer Matthias Erzberger und Walther Rathenau hießen.
Neue Freikorps?
100 Jahre später bereiten sich Rechtsextreme auf den »Tag X« vor, erstellen Todeslisten und legen Waffenlager an. Es sind keineswegs »Einzeltäter«, sondern vernetzte Gruppen, deren Mitglieder sich aus Polizeibeamten, Reservisten, einfachen Bundeswehrangehörigen, Personen aus Spezialeinsatzkommandos und dem Kommando Spezialkräfte sowie des Verfassungsschutzes rekrutieren. Während die Vernetzungen des NSU bislang weitgehend im Dunkeln bleiben, lassen sie sich bei »Hannibals Schattenarmee« zumindest erahnen.
Verbietet sich zwar eine generelle Gleichsetzung mit den historischen Freikorpsverbänden, so zeigen sich dennoch punktuelle Übereinstimmungen, z.B. die Organisation als paramilitärischer Verband mit reaktionärer Gesinnung und Anbindung an staatliche und militärische Institutionen. Hinzu kommt ein imaginiertes Umsturzszenario durch subversive linke Kräfte, welche zentrale Werte von Vaterland, Nation und Heimat bedrohen.
Vor 40 Jahren erschien Klaus Theweleits monumentales Werk »Männerphantasien«. Das Buch erregte großes Aufsehen in der linken Szene wie im bürgerlichen Feuilleton. Am Beispiel von sieben Freikorpsangehörigen und einer umfangreichen Auswertung der Freikorpsliteratur beschrieb Theweleit die Genese und Zurichtung des »soldatischen Mannes«. Sozusagen in der Nachfolge Wilhelm Reichs suchte er mit Hilfe (post-)moderner psychoanalytischer Theorien Antwort auf die Frage, welche inneren Beweggründe und affektiven Komponenten jemanden zum Faschisten machen.
Seine unkonventionelle Herangehensweise an das Thema wie das Thema selbst führten zwischenzeitlich zu harscher Kritik vor allem der Historikerzunft. Ernster als diese war Kritik von linker Seite zu nehmen, etwa von Moishe Postone, der Theweleits Ausführungen als »unspezifisch« und »außerhalb von Raum und Zeit« bezeichnete. Jedenfalls war die Beschäftigung mit den »Männerphantasien« eine längere Weile eher untergründig, was sich mit der vor kurzem erfolgten Neuauflage des Buches schlagartig wieder änderte.
Das ist nicht zufällig in einer Gegenwart, in der Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus erneut beängstigende Konturen annehmen. Die »Männerphantasien« scheinen aktueller als je zuvor. Irritierend ist allerdings, dass Theweleit selbst in neueren Interviews einen abnehmenden Rechtsradikalismus in Deutschland und Europa diagnostiziert und die These einer daraus drohenden Gefahr als »Blödsinn« und »Bullshit« bezeichnet. Es gibt zwar keine preußischen Kadettenanstalten mehr, in denen Kinder und jugendliche Männer für den Sinn des Lebens (»Sterben zu lernen«) zurechtgeprügelt werden, aber dass sich die Mechanismen der Macht nicht minder wirkmächtig verändern, lässt sich bei Foucault nachlesen.