Die Wendekinder des Ostens
Mit Sofi Oksanens »Hundepark« begreifen wir die Geschichte der postsowjetischen Ukraine etwas besser
Von Renate Hürtgen
Fassungslos verfolgen wir seit Tagen den brutalen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, hören mit Entsetzen, dass Wladimir Putin der Ukraine ihre Eigenständigkeit abspricht und womöglich das Ziel verfolgt, sie in ein großrussisches Reich einzugliedern. Auf linken Netzseiten häufen sich plötzlich Eingeständnisse, in der Einschätzung des Aggressors geirrt zu haben. Korrekturen, die Entwicklung in der Ukraine betreffend, lassen noch auf sich warten. Grund genug für ein Umdenken gäbe es auch hier.
Denn viel zu schnell wurde sich nach dem Majdan-Aufstand darauf geeinigt, die Ukraine als aggressiv nationalistisch, teils faschistisch und existenzbedrohend für Russland und die ethnischen Russ*innen zu bezeichnen. Es ist dieser einseitige »geopolitische Ansatz«, der die kulturellen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen weitgehend ignoriert und mit dem sich viele Linke den Blick auf die realen gesellschaftlichen Widersprüche nicht nur in der Ukraine verbauen. Was wissen wir denn von den rücksichtslosen Kämpfen der alten und neuen Eliten um die Macht im ukrainischen Staat, vom Existenzkampf der Menschen, in diesem Umbruch nicht unterzugehen, vom Aufbruch und den enttäuschten Hoffnungen derjenigen, die für Veränderungen auf die Plätze gegangen sind?
Das neue Buch der Finnin Sofi Oksanen füllt diese Lücke. Ihr Roman ist eine im besten Sinne Geschichtserzählung »von unten«. Sie führt die Situation der postsowjetischen Ukraine auf eine Weise vor Augen, wie wir sie bisher noch nicht gesehen haben und wo wir uns am Ende fragen, ob wir die Zeiten des Umbruchs im Osten wirklich begriffen haben.
Geschäft der Eliten
1992 zieht die zwölfjährige Ich-Erzählerin Olenka mit den Eltern von Tallinn, der Hauptstadt Estlands, nach Snischne, einer kleinen Bergarbeiterstadt in der Ostukraine. Von dort waren sie erst zehn Jahre zuvor in die Sowjetrepublik Estland umgezogen. Hier schlug der Vater sich mit der Reparatur von Adaptern durch, die einen besseren Empfang des finnischen Fernsehens ermöglichten. Es reichte für eine kleine Wohnung und ein Leben oberhalb der Armutsgrenze. In der Ukraine war der Vater Bergmann gewesen, genauso wie der Großvater, der nach dem Sieg der Sowjetarmee hochdekoriert von Deutschland aus nicht mehr in seine Heimat Estland, sondern in den Donbass geschickt worden war. Das Kohlegebiet mit dem hohen Arbeitskräftebedarf wurde zum Sammelbecken von Menschen aus allen Sowjetgebieten. Die Mutter von Olenka ist Russin, geboren in der sibirischen Verbannung.
Der plötzliche Umzug aus dem »Klein-Paris der Sowjetunion« in ein Land, in dem kein sauberes Trinkwasser aus den Hähnen fließt, ist die Ausgangslage für die Geschichte des »Wendekindes«, die Oksanen in ihrem Buch bis 2016 verfolgt. Olenka ist dann 36 Jahre alt, wohnt in Helsinki und verdingt sich als Putzfrau. Sie ist eine Gehetzte, aus der Ukraine geflohen, heimatlos und voller Angst, die Vergangenheit könne sie einholen.
Das Leben der Protagonistin ist davon bestimmt, im Machtkampf der russischen und ukrainischen Oligarchen nicht unterzugehen und im Überlebenskampf nicht ihre Würde zu verlieren.
Ein Anruf eines alten Freundes aus Snischne hatte den Vater in den Donbass gelockt, wo die nach dem Zerfall der Sowjetunion im Chaos versinkende Wirtschaft eine Art Goldgräberstimmung weckte. Olenkas Vater und sein Freund waren nicht die einzigen, die der Versuchung erlagen, vom großen Kuchen der Neuverteilung staatlicher Unternehmen etwas abzukriegen. Sollte alles schiefgehen, hätte man auch mit illegalen Grabungen in stillgelegten Kohleminen etwas Geld verdienen können. Von solchen schlecht gesicherten Kopanki gab es im Donezk Hunderte; sie trieben die Anzahl der in ukrainischen Bergwerken schon zu Sowjetzeiten verunglückten Kohlekumpel gewaltig in die Höhe. Der Vater und sein Freund begehen allerdings den Fehler, in das Geschäft der zur selben Zeit am selben Ort sich bereichernden Eliten eindringen zu wollen. Ihre Leichen werden in einer stillgelegten Mine gefunden, der Kopf des Vaters abgetrennt und als Pfand irgendwo vergraben. Die Mutter zieht mit der Tochter ins 30 km entfernte Dorf zu ihrer Schwester; die Frauen leben seitdem in Todesangst.
Wie schon in ihren anderen Büchern beschreibt Sofi Oksanen die »große Geschichte« am Beispiel des »kleinen Lebens« von Frauen. Olenka muss das Geld für die Familie anschaffen, denn der Rohopiumanbau hinterm Haus reichte nicht aus. Der Versuch, als Model in Paris genügend zu verdienen, scheitert. Olenka ist Anfang zwanzig, als sie – zurück im Dorf bei Mutter und Tante – bei ihrer Arbeitssuche auf ein in der Ukraine bis heute verbreitetes und lukratives Geschäft der Eizellen-Spende und Leihmutterschaft stößt. Der Paris-Aufenthalt hat Olenka weltgewandt gemacht; sie spricht vier Sprachen und steigt schnell zu einer Führungskraft in der Agentur auf. Jetzt sucht sie die Frauen für ihre meist aus dem westlichen Ausland stammenden Kunden aus, prüft die Eignung der Frauen, schönt deren Herkünfte und Bildung. Der »slawische Frauentyp« ist sehr gefragt, nur sollten die Spenderinnen gebildet sein und nicht aus dem krank machenden Drecknest Snischne im Donbass kommen. Zu ihren Kunden zählen auch reiche ukrainische Familien, darunter Andrej und Lada, Kinder der sowjetischen Nomenklatura, deren Familien in den 1990er Jahren zu einem der reichsten Clans der ukrainischen Oligarchie im Donezker Kohlebecken mutierten.
Chaos der postsowjetischen Zeit
Jetzt nimmt das Unheil seinen Lauf. Es stellt sich heraus, dass der Multimilliardär der alles beherrschenden Privat-Group und enger Verwandter des von Olenka betreuten Ehepaares mit Kinderwunsch eben jener »Donezk-Mann« ist, der damals Vater und Freund hat umbringen lassen. Als einer der Privat-Group-Oligarchen tot aufgefunden wird, gerät Olenka in Verdacht. Sie flieht und nimmt eine neue Identität an. Der Leser ahnt, dass die Vergangenheit sie einholen wird.
Das Faszinierende an diesem ukrainischen Nachwendekrimi ist der Perspektiv- und damit Bedeutungswechsel, der mit Olenkas Blick auf die Verhältnisse einhergeht. Von der uns gut bekannten Erzählung des Kampfes der ukrainischen mit der russischsprachigen Bevölkerung, die in den bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Majdan und »Anti-Majdan« gegipfelt haben soll, bleibt hier wenig übrig. Olenka wird in Helsinki, von wo aus sie die Ereignisse auf dem Majdan im Fernsehen verfolgt, von ihrer Kollegin, einer russischen Putzfrau, als Faschistin beschimpft; sie wundert sich, warum die Mutter plötzlich nur noch russisch mit ihr spricht und dass ihre Chefin nicht weiß, ob sie die ukrainische Flagge oder das Bild Putins wieder aufhängen soll. Olenkas Leben war nicht von diesem Konflikt bestimmt, vielmehr davon, im Machtkampf der russischen und ukrainischen Oligarchen nicht unterzugehen und im Überlebenskampf nicht ihre Würde zu verlieren.
So sah wohl die Geschichte vieler »Wendekinder« im Osten aus, eine Geschichte, die in einer Historiografie, in der es um den Kampf der Staaten, Ideologien und »Systeme« und nicht um die Situation der Menschen geht, kaum Beachtung findet. Sofi Oksanen zeigt, dass im Chaos dieser postsowjetischen Zeit alle, ob Ukrainer*innen oder ethnische Russ*innen, ums Überleben kämpften; als Sieger*innen aber gingen die neuen Oligarchen hervor, Ukrainer*innen und Russ*innen gleichermaßen. Heißt das, es hat gar keinen »Bruderkrieg« gegeben und die Angst der russischsprachigen Bevölkerung vor ihrer »Vernichtung« durch eine »Kiewer Nazi-Junta« war vielmehr erst das Produkt Putinscher Propaganda, mit der er 2014 seine Besetzung von Luhansk und Donezk begründete? Viele Linke in Deutschland sind dieser Lesart gefolgt; sie werden wohl angesichts des aktuellen russischen Feldzugs mit der gleichen Kriegspropaganda nachdenklich werden müssen.
Sofi Oksanen: Hundepark. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 480 Seiten, 23 EUR.