Zum Jagen getragen
Simon Goekes Buch über migrantische Arbeitskämpfe in Westdeutschland
Von Malte Meyer
Auch wenn sich beispielsweise die IG Metall in jüngster Zeit gerne als »größte Migrantenorganisation in Deutschland« bezeichnet: Vorfälle wie die ver.di-offiziellen Affronts gegen »Lampedusa in Hamburg«-Aktivist*innen, der mit Polizeigewalt exekutierte Rausschmiss von Refugees aus kurzzeitig besetzten DGB-Häusern, die Unterstützung der Frontex-Einsätze durch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) oder zuletzt auch die Verleugnung von polizeilichem Rassismus durch die GdP zeigen, dass eine gewerkschaftliche Identifikation mit migrantischen Anliegen keineswegs so selbstverständlich ist, wie das antirassistische Sonntagsreden immer mal wieder suggerieren.
Im Kern liegt diesen und ähnlichen innergewerkschaftlichen Migrationsdebatten die Frage zugrunde, ob Gewerkschaften als Sozialpartner nationaler Arbeitsmarktabschottung handeln oder aber als transnationale Akteure, die Lohnabhängige jenseits von Herkunft, Pass und Aufenthaltsstatus organisieren. Zur Beantwortung dieser Frage stellt die Doktorarbeit des Münchener Historikers Simon Goeke viel aufschlussreiches Material zur Verfügung. Sie rahmt den Blick auf die Frühgeschichte gewerkschaftlicher Migrationspolitik sowohl mit der Rekonstruktion zahlreicher migrantischer Arbeitskämpfe als auch mit einer detailreichen Darstellung von migrantischem Aktivismus innerhalb der studentischen Linken.
Aus Angst vor kommunistischer Unterwanderung unterstützen Gewerkschaften frühe Organisationsprozesse migrantischer Arbeiter*innen kaum.
Sehr eindrucksvoll trägt Goeke zunächst zusammen, in welchem Ausmaß es migrantische Arbeitskämpfe bereits im Westdeutschland der 1960er Jahre gegeben hat – also lange vor der inzwischen legendären Streikwelle des Jahres 1973 (bei Pierburg Neuss, Hella Lippstadt und Ford Köln). In zahlreichen Betrieben organisierten ausländische Arbeiter*innen gewerkschaftsunabhängige Protestaktionen, wilde Streiks und sonstige Arbeitskämpfe – mit am bekanntesten ist vielleicht noch der spontane Streik von über 1.500 italienischen Arbeitern bei VW Wolfsburg im November 1962. Die Aktionen richteten sich gegen die miserablen Bedingungen in den Arbeiterwohnheimen, aber auch gegen geringe Löhne und das fordistische Fabrikregime im engeren Sinne. Die Häufigkeit dieser betrieblichen Auseinandersetzungen zeugt für Goeke davon, »dass ein erheblicher Teil der Migrantinnen und Migranten nicht der Vorstellung vom dankbaren und genügsamen Arbeiter entsprach – sich also nicht damit zufriedengab, der Arbeitslosigkeit in der Heimat entkommen zu sein, sondern selbstbewusst und mit kollektiven Aktionen versuchte, die eigene Situation zu verbessern«.
Nicht zuletzt aus Angst vor kommunistischer Unterwanderung haben DGB-Gewerkschaften diesen frühen Selbstorganisationsprozessen migrantischer Arbeiter*innen fast keine Unterstützung zuteil werden lassen. Darüber hinaus haben sie sich in der Phase der Anwerbeabkommen, in der Rezession des Jahres 1967 und auch im Umfeld des Anwerbestopps von 1973 dafür stark gemacht, die Arbeitskräftemigration ins Exportland BRD zu begrenzen sowie den Zugang zu offenen Stellen streng nach dem Prinzip des sogenannten Inländervorrangs zu regeln.
Insofern kann angesichts solcher migrationsaverser Widerstände durchaus davon gesprochen werden, dass sich ausländische Arbeiter*innen in die DGB-Gewerkschaften zunächst »hineinkämpfen« und die Organisationen in der Folge auch zum Jagen tragen mussten: Aufgrund der Neuzusammensetzung von Arbeiterklasse und Gewerkschaftsmitgliedschaft konnte in Tarifauseinandersetzungen und Streiks irgendwann nur noch zusammen mit den neu zugewanderten Kolleg*innen genügend Druck aufgebaut werden, nicht länger aber ohne sie. Gewerkschaftliche Bestrebungen zu einer effektiveren Abschottung nationaler Arbeitsmärkte koexistierten Goeke zufolge mit relativ aufwendigen und zum Teil gegenläufig wirkenden Versuchen, eine autonome Organisierung ausländischer Arbeiter*innen nach Kräften zu unterbinden.
Im Unterschied zu den DGB-Gewerkschaften schreckten Aktivistinnen der 68er-Bewegung nicht vor der Militanz und den Kampferfahrungen ausländischer Arbeiterinnen zurück. Sie erblickten in dieser überausgebeuteten und sozial an den Rand gedrängten Klassenfraktion im Gegenteil eine potenzielle Vorhut betrieblicher und sozialer Auseinandersetzungen. Für Goeke ist der Internationalismus der Studentenbewegung aber keine Phrase gewesen, sondern ein durchaus wirkmächtiges politisches Programm. Es wurde besonders von jenem Segment ausländischer Studierender mit in die Tat umgesetzt, das in der BRD linke Exilpolitik betrieb und über wichtige Kontakte in die bundesdeutschen Betriebe verfügte. Gut dokumentierte Nachweise wie diese machen aus Goekes Untersuchung des Wechselspiels von Migration, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einen weiteren empirischen Beleg für jene »Autonomie der Migration«, die sich dem organisierten Zugriff von Staat und etablierten Tarifparteien immer wieder zu entziehen vermochte.
Simon Goeke: »Wir sind alle Fremdarbeiter!« Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960-1980. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020, 386 Seiten, 59 EUR