Schlafwandler und andere Konterrevolutionäre
Made in Italy: zwei historische Romane, die auch Gegenwartsfragen behandeln
Von Jens Renner
Die Revolution ist großartig, die Konterrevolution schrecklich. Stoff für Romane bieten beide. Das gilt für die Französische Revolution der Jahre 1789ff. ebenso wie für die »passive Revolution« (Antonio Gramsci), die 1922 in Italien dem Faschismus zur Macht verhalf. Neu verarbeitet werden beide Ereignisse in zwei dickleibigen Romanen italienischer Autoren – eine spannende und, zumindest in Teilen, politisch lehrreiche Lektüre.
Der Geschichtsschreibung der Sieger die alternative Version der Besiegten entgegenzusetzen, ist seit jeher das Bestreben des linken italienischen Kollektivs Wu Ming. (ak 603, 620 und 632) Nun liegt in deutscher Übersetzung ein weiterer historischer Roman der vier Autoren vor: »Die Armee der Schlafwandler«.
Die Handlung beginnt mit der Hinrichtung von Ludwig XVI. am 21. Januar 1793 in Paris und endet am selben Ort, auf den Tag genau zwei Jahre später. Zunächst sind es die Konterrevolutionäre, die scheitern: Ludwigs Tod unter der Guillotine können sie nicht verhindern. Aber im Geheimen planen sie den Gegenschlag. Er soll mehr sein als Restauration: »Die Konterrevolution ist selbst eine Revolution, oder sie ist nichts«, lautet der Leitspruch ihres Strategen, des Chevalier d’Yvers. Um seine Vorbereitungen für den Tag der Abrechnung zu treffen, zieht er sich unter falschem Namen in das »Irrenhaus« von Bicêtre, am Stadtrand von Paris, zurück.
Wu Ming: »Die Armee der Schlafwandler«
Denn einstweilen geht die Revolution weiter. Ihre Held*innen sind einfache Menschen: »Das Volk. Absurde Abstraktion und doch reale Macht, Urkraft.« Zu seinen Repräsentant*innen gehören die Näherin Marie Nozière, allein erziehende Mutter aus dem Armenviertel Saint Antoine, und der arbeitslose italienische Schauspieler Leonida Modonnesi alias Leo Modonnét. Im Kostüm des Scaramouche, ursprünglich eine Figur der Commedia dell’Arte, wird er zum proletarischen Superhelden, der die Bösen bestraft, vor allem die »Monopolierer«, die Waren horten, um die Preise hochzutreiben. Erst auf massiven Druck vor allem der Frauen beschließt der Konvent Höchstpreise für Lebensmittel. Der Hunger aber bleibt, der Klassenkampf verschärft sich, der revolutionäre Jakobiner Maximilien Robespierre, der »Unbestechliche«, und seine Gefährten sterben unter der Guillotine. Auch die kämpferischen Frauen werden verfolgt, ihre Clubs durch einstimmigen Beschluss des Konvents aufgelöst.
Derweil arbeitet Yvers auf den »großen Tag« hin. Er will den zehnjährigen Thronfolger aus der Haft befreien und die Macht übernehmen. Das Mittel dazu ist die »Armee der Schlafwandler« – eine Truppe menschlicher Kampfmaschinen, die, durch eine Art Hypnose »somnambulisiert«, willenlos und unempfindlich gegen Schmerz tun, was Yvers von ihnen verlangt.
Im Anhang zum Roman erfahren wir, dass es 1794 in Paris tatsächlich eine gewalttätige konterrevolutionäre Bande gab – »seltsame Gecken, die nicht umfielen, wenn man auf sie einschlug, … Männer mit erloschenen Augen«. »Faktische Belege für den populären Legendenschatz«, dem sie – wie auch ihr Gegenspieler Scaramouche – entstammen, gebe es aber nicht.
Auch die progressive Seite in Gestalt des Doktors Orphée d’Amblanc versucht, Menschen durch Fremdsteuerung (»animalischen Magnetismus«) zu manipulieren – für die gute Sache, versteht sich. Kein einziger Feind darf entkommen, fordern die Radikalen. Die Gewalt der konterrevolutionären Banden dagegen ähnelt der von Mussolinis faschistischen Stoßtrupps: »Hetzjagd auf Menschen, hundert gegen einen, Frauen und Alte verprügeln, Bettler totschlagen, Feuer legen in den letzten noch geöffneten Jakobinerclubs«.
Der Fortgang der Ereignisse wird teils relativ neutral erzählt, dann von Stimmen aus dem »Volk« kommentiert und zuweilen kontrovers diskutiert. Die Revolution ist kollektiver Wahnsinn und zugleich Straßentheater, ein mutiger Rächer wie Scaramouche wird zum Popstar. Der Aktivismus der Frauen aber ängstigt auch viele Progressive. Am Ende kämpfen sie, wie alle Protagonist*innen der Revolution, nur noch ums Überleben.
Die realen Hintergründe der spannend erzählten Geschichte hat Wu Ming auch in diesem Roman wieder exakt recherchiert. Kurze Exkurse mit Auszügen aus Parlamentsprotokollen, Aufrufen oder Zeitungsartikeln vermitteln die weltgeschichtliche Bedeutung der Revolution. Bei Erscheinen des italienischen Originals im Jahr 2014 lobte die linke Tageszeitung Il Manifesto Wu Mings »Geschichten von Besiegten, die, statt zu entmutigen, Hoffnungen schüren und Vertrauen zurückgeben«. Das gilt, und vielleicht in besonderem Maße, auch für »Die Armee der Schlafwandler«.
Antonio Scurati: »M. Der Sohn des Jahrhunderts«
Eine »Lehrstunde des Antifaschismus« nennt die New York Times das Buch, und auch Roberto Saviano (»Gomorra«; »Paranza«) hält es für ein Meisterwerk: Antonio Scuratis Roman »M. Der Sohn des Jahrhunderts«. Auf den mehr als 800 Seiten über den Duce des Faschismus, die nur den ersten Teil einer Trilogie ausmachen, unternimmt Scurati einiges, um seine Leser*innen zu fesseln. Mussolinis Aufstieg zur Macht schildert er als Abenteuergeschichte.
Beginnen lässt er sie am 23. März 1919 in Mailand mit der Gründung der faschistischen Kampfbünde. Sie endet – vorläufig, in diesem ersten Teil – am 3. Januar 1925: Die seit Ende Oktober 1922 amtierende faschistische Regierung hat ihre Macht gefestigt, der Duce ist mit sich zufrieden: »Niemand wollte sich das Kreuz der Macht auf die Schultern laden. So nehme ich es.«
Die fiktive Selbstreflexion des Protagonisten wirkt verstörend, nicht nur an dieser Stelle. Dabei war Scurati sich der Gefahr bewusst, unfreiwillig zur Heroisierung Mussolinis beizutragen, wie er in einem Interview erklärte. (Il Manifesto, 23.4.2019) An die Form des Romans habe er sich gewagt, um zu einer Erneuerung des Antifaschismus beizutragen. Während die meisten Dialoge überzeugen, wirkt der Erzählton mitunter angestrengt: »Wie ein Raubtier, das die Schnauze in den Eingeweiden seiner Beute vergräbt«, erscheint Mussolini – dabei schlürft er gerade nur seine Milchsuppe.
Angereichert hat Scurati seine Erzählung um unzählige zeitgenössische Texte, aus denen er Ausschnitte dokumentiert – etwa die Meinung des US-Botschafters Richard Washburn zum faschistischen Marsch auf Rom im Oktober 1922: »Wir erleben hier eine schöne Revolution junger Menschen. Keine Gefahr, sie ist bunt und voller Begeisterung: Wir haben einen Mordsspaß.«
Die freiwillige Unterwerfung der liberalen Demokraten führt Scurati auf deren Angst vor der rechten Gewalt zurück. Diese Angst sei die »einzig scharfe Waffe« der militärisch hoffnungslos unterlegenen faschistischen Truppen gewesen. Als Erklärung für die Reibungslosigkeit der angeblichen »Machtergreifung« ist das ziemlich dürftig; die Klasseninteressen der traditionellen Eliten, die auf Mussolini setzten, spielen für Scurati kaum eine Rolle. »Unnötig, nach dem Warum zu fragen. Gründe gibt es viele und keine«, schreibt er stattdessen und fährt nebulös fort: »Stumm und ungerührt sitzt die Sphinx der Geschichte auf dem, was war und was sein wird«.
Ein Roman ist ein Roman. Scuratis Opus kann man lesen, ohne sich zu langweilen. Sein Beitrag zur »Erneuerung des Antifaschismus« aber bleibt überschaubar.
Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold. Assoziation A, Berlin, Hamburg 2020. 671 Seiten, 28 EUR.
Antonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 830 Seiten, 32 EUR.