Die Dekolonisierung Russlands ist keine Metapher
Die Ausstellung Өмә in Berlin versammelt Arbeiten von Künstler*innen, die den russischen Imperialismus kritisieren
Baschkir*innen, Komi, Tatar*innen, Tschuwasch*innen, Tschetschen*innen, Mordwin*innen, Kasach*innen, Darginer*innen, Udmurt*innen, Mari, Kabardiner*innen, Kumyk*innen… Die Liste der ethnischen Minderheiten, die innerhalb der Russischen Föderation leben, ist lang und umfasst je nach Einschätzung 160 bis 193 Bevölkerungsgruppen.
Die Ausstellung Өмә ([öme]; baschkirisch für »kollektive Selbsthilfepraktiken«), die vom FATA collective in Berlin organisiert wurde, versammelt rund dreißig künstlerische Positionen von Angehörigen indigener Gemeinschaften sowie von Künstler*innen mit multiethnischer und migrantischer Identität aus Russland. Ihr Ziel ist es, das Bild Russlands als Kolonialmacht aufzudecken, die sich durch »Vertreibung, Zwangsassimilation, Christianisierung, Russifizierung und Extraktivismus innerhalb ihrer heutigen Grenzen konstituiert«, wie es im Einführungstext heißt. Der derzeitige Krieg gegen die Ukraine soll zudem nicht isoliert von der Geschichte Russlands betrachtet, sondern als Fortsetzung einer historischen Kontinuität russischer imperialer Logik verstanden werden. Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit war ein Residenzprogramm für Frauen, nicht-binäre und transgeschlechtliche Personen aus indigenen Gemeinschaften. Die meisten Künstler*innen der Ausstellung bleiben aus Sicherheitsgründen anonym, weil ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft kriminalisiert wird, was bedeutet, dass viele, die sich öffentlich zu dekolonialen Themen äußern, mit Repressionen rechnen müssen.
Viele westliche Linke erkennen nicht den russischen, sondern nur den US-Imperialismus.
Ziel der Ausstellung ist es, translokale Netzwerke gegen die koloniale und imperiale Gewalt des russischen Regimes aufzubauen. In Russland herrscht eine strikte ethnische Hierarchie, die Russ*innen an die Spitze stellt und dementsprechend die russische Sprache und Kultur gegenüber anderen Lebensweisen durchsetzt. Andere Bevölkerungsgruppen blicken auf eine lange Geschichte als Betroffene von Umsiedlung, Christianisierung, Zwangs-»Modernisierung« und Russifizierung bis hin zum Völkermord zurück. Ihre Ökosysteme werden kontinuierlich zerstört und ihre Ressourcen ausgebeutet. Das thematisieren zum Beispiel die Arbeiten »Arba« von Patimat Partu, »Ө« vom MU Collective oder »ASHARSHYLYQ« von Qalamqas und Gul Altyn.
All das findet keinen Widerhall in den liberalen, oppositionellen Kräften Russlands, die sich um Nawalny oder Chodorkowski sammeln. Auch diese bekämpft der Putin-Apparat, sie halten dennoch weiterhin an den imperialistischen und rassistischen Ansichten fest, die auch Putins Regime vertritt. Die Teilnehmer*innen der Ausstellung im Kunstraum Bethanien distanzieren sich daher sowohl von der russischen Opposition als auch von vielen Linken im Westen, die das Regime verharmlosen, wie eine Installation von un|rest group exemplarisch zeigt. Die Kritik: Viele westliche Linke erkennen in ihrer begrenzten Wahrnehmung nicht den russischen, sondern nur den US-Imperialismus.
Den Künstler*innen und Aktivist*innen geht es um die »Demetaphorisierung des dekolonialen Diskurses«, wie es in einem Essay der Wissenschaftler*innen Eve Tuck und K. Wayne Yang heißt, und um nichts weniger als die »Rückgabe von Land und indigenem Leben«. Das verbindet sie mit den dekolonialen und antiimperialen Kämpfen in anderen Teilen der Welt.
Anmerkung
Die Ausstellung »Өмә« ist ein Projekt der nGbK in Kooperation mit dem Kunstraum Kreuzberg/Bethanien. Sie läuft vom 11. März bis 29. Mai 2023.