Die Cola-Dose im Wohnzimmerfenster
Die in Albanien aufgewachsene Philosophin Lea Ypi verwebt in ihrem Buch »Frei« Autobiografisches mit linken Reflexionen über den Freiheitsbegriff
Von Florian Skelton
Ohne es ahnen zu können, hat Lea Ypi ein erschreckend aktuelles Buch geschrieben. Ein Land in Feindschaft mit Russland, von westlicher Freiheit gelockt – was heute auf die Ukraine zutrifft –, prägte auch das Albanien der 1980er Jahre, in dem die politische Theoretikerin Ypi aufwuchs. Ihre Autobiografie handelt vom Zerfall des sozialistischen Sonderwegs und von der Hinwendung zum kapitalistisch-liberalen Standardmodell, von einer Jugend, in der kindliche Begeisterung für ein stalinistisches Regime in skeptische Neugier für den Liberalismus umschlägt. Oder wie die Autorin es selbst nennt: vom »Erwachsenwerden am Ende der Geschichte«.
Die Geschichten in Ypis »Frei« sind dabei so ausdrucksstark wie schonungslos: das ständige Warten vor Läden, die kaum etwas zu verkaufen haben, ein Familienstreit um eine Coca-Cola-Dose und das Recht, sie im Wohnzimmerfenster ausstellen zu dürfen, die ständige Geheimhaltung und das Sprechen in Codes – selbst innerhalb der Familie. Ypi zerpflückt den Stalinismus des damaligen Albaniens mit derselben kindlichen Naivität, die sie als Schülerin noch loyal an die sozialistische Partei band.
Es ist diese harte Darstellung eines realsozialistischen Regimes mit seinem Führerkult und seinem Kontrollwahn, das »Frei« international einen fulminanten Erfolg bescherte. Das englische Original schaffte es auf zahlreiche renommierte Bestsellerlisten und kam selbst bei Großbritanniens Konservativen gut an. Bei einer Professorin, die sich als »kantianische Marxistin« und »moralische Sozialistin« bezeichnet, mag das überraschen. Ypis »Frei« erinnert an Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«, das sich ebenfalls unerbittlich alten linken Realitäten widmet, ohne allerdings eine pfannenfertige Neuauflage zu präsentieren.
Die Autorin spürt nach der Freiheit und was sie jenseits stalinistischer Inszenierungen und liberaler Versprechungen bedeuten könnte.
Das Verdienst von Ypis Autobiografie liegt darin, eine linke Perspektive auf ein Thema wie Freiheit literarisch zugänglich zu machen. Denn Ypi verflechtet ihre Geschichte des Erwachsenwerdens prosaisch geschickt mit grundlegenden Fragen nach Freiheit. Neben Klassenzimmergeschichten und Jugendlieben implodiert das sozialistische Regime unter Enver Hoxha. Die Proteste sind groß; Albanien vollzieht die Transition zum Kapitalismus. Zu Beginn des Umschwungs scheint eine authentische und »echte« Freiheit noch greifbar.
Doch die Hoffnungen werden rapide pulverisiert. Fortan sind die Albaner*innen zwar frei, ihr Land zu verlassen sowie Arbeit und Ausbildung selbst zu wählen. Aber kaum ein Land nimmt sie auf, Arbeitsplätze sind rar. Die Freiheit, für die sie in den frühen 1990er Jahren gekämpft hatten – damit war nicht diese marktwirtschaftliche Variante gemeint. Rückblickend beschreibt Ypi pointiert die beiden Systeme: Die liberalkapitalistische Welt sei »so weit von der Freiheit entfernt wie die, aus der meine Eltern entkommen wollten.«
Während der Transition wird Ypi biografisch gesehen erwachsen, persönlich entidealisiert sie ihre Eltern und politisch interessiert sie sich für den Liberalismus. Die Gleichzeitigkeit dieser Umbrüche bewirkt in Ypi eine Art philosophische Urszene: Alte Gewissheiten stellen sich als verdreht und falsch heraus, neue Sicherheiten lassen sich kaum gewinnen. Inmitten dieser persönlichen wie gesellschaftlichen Verunsicherung spürt Ypi nach der Freiheit und was sie jenseits stalinistischer Inszenierungen und liberaler Versprechungen bedeuten könnte.
Die verschiedenen Freiheitsverständnisse werden dabei erzählerisch gelungen auf Ypis Familienmitglieder verteilt. Die Mutter ist eine Marktliberale und steht für eine negative Freiheit, die eine Abwesenheit von staatlichen Vorgaben meint. Ihr Vater hingegen befürwortet eine positive Freiheit, wonach Bedingungen erfüllt sein müssen, um Freiheit wahrnehmen zu können. Es ist die Großmutter, die in Ypis Freiheitssuche die wichtigste Stellung einnimmt. Von adliger Abstammung, hält jene die moralische Freiheit hoch: »Erst kommt die Moral und dann das Fressen«, dreht jene Bertolt Brechts Diktum um. Selbst unter Bedingungen einer Diktatur sei man frei, um sich moralisch zu verhalten.
Hier kommt die erste von zwei Inspirationsquellen für Ypis »moralischen Sozialismus« zum Vorschein: Immanuel Kant. Ypis Großmutter war für die Autorin eine Kantianerin, die selbst aber nie Kant gelesen hat: Sie betont eine innere Freiheit, die sich aus der Menschenwürde ergibt und die selbst unter den widrigsten Bedingungen Bestand hat. Diese kantianische Freiheit im Innern ergänzt Ypi mit Karl Marx, Orientierungsfigur Nummer zwei in Ypis Freiheitsverständnis. Jener liefert die Kritik der Strukturen, die einer gesellschaftlichen Verwirklichung der moralischen Freiheit entgegenstehen.
Ypi hat mit ihrer politischen Autobiografie »Frei« ein Buch geschrieben, wie es akademisch arbeitende Sozialist*innen fast nie schaffen: unterhaltsam, mal nachdenklich stimmend und immer politisch in der persönlichen Geschichte. Die albanische Philosophin erzählt von einem Leben, das zwischen den Fronten des Kalten Krieges zerrieben wird und stets nach der Freiheit sucht, die Sozialist*innen meinen.
Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022. 332 Seiten, 28 EUR.