Kritischer Blick auf die EU-Geschichte
Aufgeblättert: »Europäische Integration. Geschichte und Gegenwart« von Kiran Klaus Patel
Von Florian Weis
Vorliegende Publikation des Historikers Kiran Klaus Patel baut auf dem umfangreicheren Buch »Projekt Europa. Eine kritische Geschichte« aus dem Jahre 2018 auf. Unter den Überschriften »Das Freiheitsprojekt: 1992-2009« und »Das Sicherungsprojekt: Kurskorrektur seit 2009« wird hier den letzten drei Jahrzehnten mehr Raum gewidmet. Patel deutet die Geschichte der europäischen Integration als eine von »Versuch und Irrtum«. Gerade das Fehlen eines Masterplans und die Existenz vieler konkurrierender europäischer Einrichtungen habe es erlaubt, manche Krise durch Umwege zu überwinden. Aus einem »Markt mit Anhang« vertiefte sich die EG in den Jahren 1969-1992 in einer »unbemerkten Transformation«. Je umfassender die EU sich aber entwickelte, desto konfliktanfälliger wurde sie, was auch mit der stärkeren und kritischen politischen Anteilnahme der Bevölkerungen zu tun hatte. Patel wirft dabei einen sehr kritischen Blick auf die dominierende wirtschaftsliberale Ausrichtung der EU und ordnet die frühe Geschichte der EWG auch in einen Prozess der Kolonialgeschichte und Dekolonialisierung ein. Zugespitzt spricht er von zwei frühen Austritten aus der EU lange vor dem Brexit: Algerien 1962 und Grönland 1985. Er relativiert allzu idealistische und überhöhte Vorstellungen der europäischen Einigung. Ihm geht es um einen nüchternen Blick, der einen pragmatischeren Umgang mit der EU erlaubt. Diese sei heute einerseits so relevant wie nie zuvor und deshalb zugleich anfälliger für fundamentale Krisen.
Florian Weis
Kiran Klaus Patel: Europäische Integration. Geschichte und Gegenwart. C.H. Beck Wissen, München 2022. 128 Seiten, 9,95 EUR.