Tiefenscharfes Verstehen
Mit ihrem Buch »Antisemitismus gegen Israel« liefern Klaus Holz und Thomas Haury der Linken wertvolle Denkanstöße
Von Jens Renner
Eine umfassende, eindeutige und allgemein akzeptierte Definition von Antisemitismus gibt es nicht, kann es vermutlich auch nicht geben. Schon deshalb geht es Klaus Holz und Thomas Haury in ihrem Buch »Antisemitismus gegen Israel« nicht um »normative Urteile« über einzelne Textpassagen, sondern um die Voraussetzung solcher Urteile: Ihre umfangreiche Studie soll helfen zu »verstehen, was gegen Israel gerichteter Antisemitismus bedeutet«, schreiben sie in der Einleitung. Nur kurz streifen sie dort die aktuellen deutschen Kontroversen um Achille Mbembe und Felix Klein, den Anti-BDS-Beschluss des Bundestages, das Jüdische Museum in Berlin und dessen zum Rücktritt gedrängten Direktor Peter Schäfer – allesamt »identitätspolitische Debatten«, in denen die Autoren vorschnelle Parteinahme vermeiden. Denn »die erste Aufgabe wissenschaftlicher Antisemitismuskritik«, schreiben sie, »ist ein tiefenscharfes Verstehen der judenfeindlichen Sinnzusammenhänge …«, natürlich »aus anti-antisemitischer Perspektive«.
Negatives Feindbild, positives Selbstbild
Für problematisch halten sie gängige Unterscheidungen zwischen »einem christlichen, klassischen, modernen, rassistischen, sekundären und israelbezogenen Antisemitismus«. In den auf die Einleitung folgenden Kapiteln tauchen dann allerdings genau diese Unterscheidungen wieder auf. Es geht um historische Kritik am Zionismus, spätstalinistischen und antiimperialistischen »Antizionismus« in der DDR und der westdeutschen neuen Linken, Islamismus, christlichen Antijudaismus und neue Rechte. Dass dem negativen Feindbild stets ein positives Selbstbild gegenübersteht, arbeiten die Autoren überzeugend heraus. Ihre Expertise haben sie schon früher bewiesen, ihre Bücher »Nationaler Antisemitismus« (Holz 2001) und »Antisemitismus von links« (Haury 2002) gehören auch 20 Jahre nach ihrem Erscheinen zu den Standardwerken.
Ergebnis ihrer jetzt vorliegenden gemeinsamen Arbeit ist ein Lehrbuch im besten Sinne. Frei von Fehlern ist es nicht: Da wird dann schon mal Verdun mit Bitburg und Francois Mitterrand mit Ronald Reagan verwechselt; Helmut Kohl, so viel ist richtig, war beide Male dabei, um vor den Augen der Welt einen geschichtspolitischen Schlussstrich zu ziehen und deutsches Nationalbewusstsein zu demonstrieren – mehrere Jahre vor der »Wiedervereinigung«.
»Sollen vergessene Opfer durch falsche Vergleiche mit der Shoah aufgewertet oder vergangene Schuld an den Jüdinnen und Juden in ihrer gegenwärtigen Bedeutung abgewertet werden?«
Heute ist die Rechte in Deutschland einen Schritt weiter, wie die Autoren an mehreren Beispielen, auch aus den Reden von Alexander Gauland und Björn Höcke, anschaulich machen. Nach wie vor geht es ihnen um die Rückgewinnung »nationalen Selbstbewusstseins«, und immer noch relativieren sie zu diesem Zweck die Shoah und betreiben Täter-Opfer-Umkehr, die den gesamten postnazistischen Antisemitismus kennzeichnet. Zugleich aber übernehmen sie scheinbar Verantwortung auch für die »zwölf Jahre«, um sich dann schnell den aktuellen nationalen »Schicksalsfragen« wie Einwanderung und »Islamisierung« zuzuwenden – Schuldabkapselung nennen Holz und Haury dieses Vorgehen.
Auch demonstrative Freundschaft mit Israel kann mit dem neurechten Identitätsangebot kompatibel sein. Das gilt ebenso für die Teile der christlichen Kirchen, die einem »antijudaistischen Zionismus« anhängen. Ihr Glaube an die alternativlose Wahrheit des Evangeliums erfordert es, die Juden an der christlichen Heilsgeschichte teilhaben zu lassen – in Etappen: »Rückkehr ins Heilige Land, Bekehrung zu Christus, Wiederkehr des Messias«. Mit dem Sieg der den Juden missionierend verkündeten christlichen Heilslehre hätte sich das Judentum erledigt. Es ist schon erstaunlich, was christliche Theolog*innen sich einfallen lassen, um ihren religiösen Alleinvertretungsanspruch zu begründen.
So stellen sich bei der Lektüre des Kapitels »Christen für und wider Israel« einige Aha-Effekte ein. Weit weniger gilt das für den Abschnitt »Antiimperialistischer ›Antizionismus‹ in der neuen Linken Westdeutschlands« im Kapitel über »Antisemitismus von links«. Man kennt die schlimmen Sätze aus Verlautbarungen der K-Gruppen, der RAF und anderen linksradikalen Gruppierungen seit den 1970er Jahren. Der Heroisierung der kämpfenden Palästinenser*innen gegenüber stand die Dämonisierung Israels: »Der Zionismus geriet zu einer weltweiten Verschwörung von jüdisch-zionistischen Kapitalisten«, schreiben die Autoren, leider zu Recht.
Bedingter Universalismus
Immerhin ist der überwiegende Teil der Linken in Deutschland heute schlauer, aber offensichtlich nicht schlau genug. Haury und Holz wollen weitere Lernprozesse anstoßen, nicht durch Belehrungen, sondern durch Vorschläge, die sie zur Diskussion stellen: Wissenschaft als »Grundlage politischer Urteile, präventiver Praxis und antisemitismuskritischer Bildung«. So plädieren sie für einen »bedingten Universalismus« statt »Identitätspolitik« und fordern, »Rassismus- und Antisemitismuskritik in ihren Ambivalenzen und als zwei unverzichtbare und verschränkte Dimensionen eines selbstreflexiven, bedingten Universalismus anzuerkennen.« Was das bedeutet, zeigen sie am Beispiel des antisemitischen Stereotyps der Holocaust-Relativierung, das sowohl der Opferkonkurrenz wie der Schuldabwehr dienen könne. In beiden Fällen sei dieses Stereotyp »ganz und zugleich unterschiedlich falsch. Der Unterschied jedoch kann Antisemitismuskritik nicht egal sein: Sollen vergessene Opfer durch falsche Vergleiche mit der Shoah aufgewertet oder vergangene Schuld an den Jüdinnen und Juden in ihrer gegenwärtigen Bedeutung abgewertet werden?«
Solche Ambivalenzen auszuhalten, scheint auch – oder gerade? – für Linke schwer. Den abfragbaren Kriterienkatalog für Antisemitismus gegen Israel aber gibt es nicht. Auch die viel zitierte 3D-Formel – Delegitimierung und Dämonisierung Israels sowie doppelte Standards bei der Bewertung seiner Politik – hilft nicht. Denn 3D sind in der politischen Debatte und Polemik gängig, keineswegs nur gegenüber Israel. Für ähnlich untauglich halten die Autoren die Antisemitismusdefinitionen der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und die Jerusalem Declaration on Antisemitism. (ak 670) Statt eine eigene Definition zu formulieren, verweisen sie auf eine mindestens ebenso fatale Leerstelle. So gehöre »das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus zu den eklatantesten Forschungslücken überhaupt«. Diese Lücke zu schließen, ist aber nicht nur Aufgabe spezialisierter Wissenschaftler*innen, sondern auch der anti-antisemitischen und antirassistischen Praxis. Womit die Linke direkt angesprochen ist: Debatte und Praxis, Debatte für die Praxis. Mit ihrem Buch liefern Holz und Haury einen wertvollen Beitrag für beides.
Klaus Holz und Thomas Haury: Antisemitismus gegen Israel. Hamburger Edition 2021. 419 Seiten, 35 EUR.