Revolutionäre Uhrmacher
Geschichte Florian Eitels Studie zeigt die Anarchist*innen im Schweizer Jura in einem anderen Licht
Obwohl sich die Internationale Arbeiterassoziation, die sogenannte Erste Internationale, im Schweizer Jura nicht mit klassenkämpferischer Praxis hervortat, entstand gerade dort mit der Juraföderation eine anti-autoritäre Organisation, der sich im Laufe ihres zwölfjährigen Bestehens auch zahlreiche Sektionen außerhalb des Juras anschlossen. Die von 1871-1883 existierende Föderation zählte 150-400 Mitglieder und genoss international einen guten Ruf. Der Anarchist Michail Bakunin nahm 1872 am Kongress von St.-Imier teil, auf dem sich die Antiautoritären innerhalb der IAA in Abgrenzung zu Karl Marx zusammenschlossen. Auch der Vordenker des kommunistischen Anarchismus, Peter Kropotkin, hielt sich längere Zeit bei den Schweizer Revolutionären auf. Für einige Jahre war die Schweiz das Zentrum der internationalen anarchistischen Bewegung.
Zum ersten Mal seit 40 Jahren ist nun eine Studie zur anarchistischen Juraföderation erschienen. Florian Eitels Untersuchung »Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz« zeigt mit seinem netzwerktheoretischen Ansatz die jurassischen Anarchist*innen von einer neuen Seite.
Die Gemeinden St. Imier und Sonvilier stellten Zentren sowohl des Kerns der Juraföderation dar als auch der lokalen Uhrenindustrie. Diese wurde beinahe regelmäßig von Krisen heimgesucht – worauf Unternehmer der Uhrenindustrie und Anarchist*innen unterschiedlich reagierten. Unter den Uhrenfabrikanten entstand trotz der Exportabhängigkeit kaum ein Bewusstsein von Globalität; auf globale Krisen wurden nationale Antworten gesucht. Das hat auch mit der Art und Weise zu tun, wie sich die Globalisierung im 19. Jahrhundert in Europa entwickelte. Zentrale Faktoren waren Innovationen wie die Eisenbahn und der Rotationsdruck. Das Eisenbahnnetz beispielsweise wurde in der Schweiz jedoch national instrumentalisiert. Politisch war es wichtiger, das Jura an das Binnennetz anzuschließen, als Verbindungen nach Frankreich herzustellen.
Es ist ein Verdienst der Studie, den Fokus auf unbekannte und weibliche Akteur*innen zu lenken.
Im Gegensatz zu der Uhrenindustrie entwickelten die anarchistischen Uhrmacher*innen ein Globalitätsbewusstsein. Ein wesentlicher Faktor dafür war deren translokale Orientierung. So standen sie mit zahlreichen Akteur*innen außerhalb der Schweiz in Briefkontakt. Im zentralen Kapitel untersucht Eitel deshalb nicht die Föderation an sich, sondern den anti-autoritären Kongress, der 1872 in Saint-Imier stattfand. Für die entstehende anarchistische Bewegung stellte er ein wichtiges Ereignis dar. Dort habe sich auch »ein Stück Globalgeschichte« abgespielt. Die Kurzporträts aller – namentlich bekannten – Teilnehmenden und die Visualisierung ihrer Aufenthaltsorte verdeutlichen dies. Auf dem Kongress tauschten sie sich über ihre Erfahrungen aus und knüpften neue Kontakte.
Es ist ein großes Verdienst dieser Studie, den Fokus von den großen Namen wie Bakunin und Errico Malatesta auf bis dato unbekannte, nicht zuletzt auch weibliche Akteur*innen zu lenken. Damit bricht der Autor die ausgerechnet in der anarchistischen Geschichtsschreibung bestehenden Hierarchien auf: »Daher sollte man in der Ideengeschichte des Anarchismus, anstatt Väter zu kreieren, eher nach ideengeschichtlichen Familien suchen.« So wurden Bakunin teilweise Texte zugeschrieben, deren Autorschaft alles andere als klar ist; syndikalistische Geschichtsschreibung hat aus ihm zudem den »Erfinder des Generalstreiks« machen wollen, obwohl seine Texte auch für den aufständischen Anarchismus sprechen und Ideen nie von einer Person allein entwickelt werden. Auch heute noch feiern die anarchistischen Strömungen gerne ihre großen Figuren.
Da Eitel die anarchistischen Verbindungen und Kontakte als Netzwerke begreift, fragt er in dem Kapitel, das den Aktivitäten der Föderation gewidmet ist, nach dem Globalitäts- und Klassenbewusstsein seiner Mitglieder. Dieses manifestierte sich insbesondere in kulturellen Praktiken wie Umzügen, Chören und Spendenaufrufen im Namen internationaler Solidarität.
Gewissermaßen bleiben die jurassischen Anarchist*innen jedoch auch nach dieser Studie eine Unbekannte. Warum anarchistische Ideen gerade im Jura auf so fruchtbaren Boden gefallen sind, wie die anarchistischen Besucher*innen zufrieden feststellten, gilt es erst noch zu erforschen.