Rauf und runter
Die filmische Kritik an der Klassengesellschaft funktioniert nicht mehr, wie »Der Schacht 2« zeigt
Von Martin Seng
Wenn jede*r nur das nimmt, was er*sie benötigt, reicht es für alle. Nur hält sich niemand daran. In einem Schacht mit hunderten Etagen fährt eine Plattform von oben nach unten, gefüllt mit den erlesensten Speisen. Auf jeder Ebene warten zwei Menschen drauf, dass das Essen für ein paar Minuten vor ihnen hält. Sie alle haben bestimmte Gerichte bestellt, doch können sie auch alle weiteren Speisen essen. Und je tiefer die Plattform gelangt, desto weniger Essen trägt sie mit sich. In den oberen Etagen gibt es noch den feinsten Kuchen und das beste Fleisch, weit unten sind es – wenn überhaupt – nur noch abgenagte Knochen und ausgeleckte Schüsseln. Die Prämisse von »Der Schacht« ist simpel, doch traf sie im März 2020 beim Publikum einen Nerv. Sogar so sehr, dass Netflix nun einen Nachfolger produziert hat. Dabei ist nicht nur der Titel »Der Schacht 2« unoriginell, auch die Kapitalismuskritik ist so aufgebraucht wie das Essen auf der letzten Plattform. Der Film steht sinnbildlich dafür, wie schlecht es um die antikapitalistische Botschaft im Bewegtbild bestellt ist.
Dabei beginnt »Der Schacht 2« durchaus interessant. Ein Gesetz soll die unteren Ebenen vor der Gier der jeweils oberen schützen: Alle dürfen nur ihre eigene Bestellung entgegennehmen. Ansonsten werden sie von den sogenannten Gesalbten getötet und gefoltert, die aus den oberen Etagen nach unten fahren. Das Gesetz muss um jeden Preis aufrechterhalten werden, selbst wenn die Gesalbten die Regeln willkürlich interpretieren. Es entwickelt sich eine Schreckensherrschaft á la Robespierre, die sich als vermeintliche Demokratie tarnt. Der durchaus interessante Ansatz hat jedoch ein Problem, das viele kapitalismuskritische Filme haben.
Die Bourgeoisie lebt oben, das Proletariat unten: Spätestens 1927 war diese filmische Ständemetapher auserzählt.
Wenn ein Medium den Kapitalismus kritisiert, wird dafür oft auf eine architektonische Metapher zurückgegriffen. Filme, Bücher, Videospiele und Theaterstücke bauen eine vertikale Konfliktlinie auf, in der das Obere dem Unteren gegenübersteht. Das kann wie im neuen Netflix-Film ein Schacht sein oder ein Hochhaus wie in dem Roman »High-Rise« von James Graham Ballard. In dieser fiktiven wie auch realistischen Hierarchie schauen die Erfolgreichen und Reichen auf die Arbeitnehmenden und Arbeitslosen herab. Die Wenigen bauen ihren Reichtum auf dem Rücken von Vielen auf, beuten sie aus und nutzen die Macht des Kapitals, um sie zu kontrollieren. Soweit, so bekannt. Doch liegt in eben dieser Popularität das Problem. Die architektonische Metapher für den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hat sich mit ihrem ersten Aufkommen in den Filmen der 1910er Jahren erschöpft.
Der Monumentalfilm »Intoleranz« setzte sich bereits 1916 mit dem Konflikt zwischen oben und unten auseinander. Wenn der babylonische König von Stadtmauern auf den Pöbel unter ihm blickt, sind die Machtverhältnisse unmissverständlich. Doch spätestens 1927 war diese Ständemetapher mit »Metropolis« auserzählt. Regisseur Fritz Lang inszenierte eine überlebensgroße Metropole, die von einer unterdrückten, in den Tiefen der Stadt lebenden Arbeiter*innenschaft am Leben gehalten wird. Es endet – wie so oft – mit dem Fortbestehen der Strukturen, wenn auch in leicht entschärfter Form. Die Metapher für den Kampf der Klassen hat sich seitdem kaum weiterentwickelt.
Eines der wenigen Beispiele für eine differenzierte Kritik an der kapitalistischen Elite stammt aus dem Jahr 1972. »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« von Luis Buñuel seziert die Träume sechs elitärer Menschen und hinterfragt ihre dekadenten Handlungen. Es ist ein surrealistischer Film, der zwischen Realität, Fiktion und Traum wandelt, ohne dabei auf horizontale oder vertikale Konfliktlinien zurückzugreifen. Buñuel biedert sich mit seinem Film nicht an konventionelle Sehgewohnheiten an, sondern fordert sein Publikum intellektuell heraus. Die Komplexität seines Films spiegelt die absurden Dimensionen des Kapitalismus wider und reduziert sie nicht auf eine simple Gegenüberstellung von oben und unten. Stattdessen zeigt Buñuel, wie sehr sich die herrschende Klasse von der arbeitenden entfernt hat und wie realitätsfern sie ist. Von solchen klugen, radikalen und zugleich surrealen Filmen braucht es mehr – doch Regisseure wie Buñuel sind in einer Zeit des kommerzialisierten Franchise-Kinos ausgestorben.
An den wenigen Beispiele für eine differenzierte Kritik am Kapital und den Abhängigkeiten will sich »Der Schacht 2« nicht orientieren. Der spanische Film bleibt flach, auch wenn es mehrere hundert Etagen nach unten geht. Aber mehr als oben gegen unten kann der Film nicht darstellen und eine fundierte Kapitalismuskritik bleibt aus. Darüber täuscht auch das viele Blut nicht hinweg, das die Stockwerke hinunterfließt. Die grundsätzlich interessante Prämisse wird – wie auch schon im Vorgänger – nicht ausgeschöpft, geschweige denn weitererzählt. Das Publikum verfolgt einen belanglosen Kampf zwischen oben und unten, der weder aufgelöst wird, noch die bestehenden Verhältnisse hinterfragt oder Alternativen anbietet. Nach 101 Minuten hat sich nichts verändert, außer, dass man seine Zeit verloren hat.
Der Schacht 2. Spanien 2024. 101 Minuten. Regie: Galder Gaztelu-Urrutia