Hinter den Kulissen
Der Dachverband Tanz mauert gegen Rassismusvorwürfe − das zeigt, dass Machtstrukturen aufgebrochen werden müssen
Von Raphael Molter
Ob beim Staatstheater in Düsseldorf, dem Theater an der Parkaue in Berlin oder beim Berliner Staatsballett: In der deutschen Kulturszene treten seit Jahren immer neue Rassismusvorwürfe zu Tage. Sie erschüttern und stoßen gleichzeitig eine Debatte an, die den Kulturbereich dazu zwingt, sich mit den strukturellen Grundlagen von Diskriminierung auseinander zu setzen. Es wurden Selbstverpflichtungen unterschrieben und Antirassismus-Klauseln in Verträge geschrieben − nur wirklich geändert hat sich scheinbar nichts. Denn allerorten keimt die Hoffnung, es handele sich um Einzelfälle.
Nun findet sich auch der Dachverband Tanz Deutschland (DTD) mit Vorwürfen struktureller Diskriminierung konfrontiert. Der Verband vereint 40 Verbände sowie knapp 10.000 Menschen und ist die finanzielle Schnittstelle zwischen den staatlichen Geldern für Kultur und den zu fördernden Projekten. Eine machtvolle Institution mit enorm viel Einfluss: Jährlich werden zweistellige Millionenbeträge durch den Dachverband verteilt.
Tanz dekolonisieren
Bei der Verleihung des Deutschen Tanzpreises im Oktober 2020 wurde Raphael Moussa Hillebrand für »herausragende künstlerische Entwicklungen im Tanz« ausgezeichnet. Damit ging der Preis zum ersten Mal in seiner langjährigen Historie nicht an einen weißen Künstler. Bemerkenswert ist, dass der Preis an einen Künstler verliehen wurde, der sich keiner der klassischen Tanzformen widmet, sondern dem urbanen Tanz: Hip-Hop und Breakdance statt Ballett.
Hillebrand ist für seinen Kampf gegen Rassismus bekannt, der auch seine Kunst bestimmt. Er selbst nennt sich einen Revolutionär und äußerte sich in der Vergangenheit häufiger über die neokolonialen Probleme der Tanzszene, denn es fehlt an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Historie und den Aneignungsprozessen des europäischen Tanzes. Der Tagesspiegel schrieb deshalb über Hillebrand als einen »Künstler mit Haltung«. Er vereint urbanen Tanz mit Kritik an der Mehrheitsgesellschaft.
Im Anschluss an die Preisverleihung lud der Dachverband Tanz zu einem (Online-)Symposium ein. In einem der Panels, moderiert von Ella Steinmann, einer Schwarzen Agentin für Diversitätsentwicklung, sollte es um die Dekolonisierung von Tanz, Diversität und die Erfahrungen der Teilnehmenden gehen. Das Panel unterschied sich explizit von anderen: Es sollte primär aus Betroffenenperspektive gesprochen werden.
Die Runde, an der auch Raphael Moussa Hillebrand teilnahm, diskutierte über die Notwendigkeit eines dekolonialisierten Tanzes sowie Eurozentrismus und übte Kritik an der Tanzform Ballett. Viele Teilnehmende berichteten von gläsernen Decken, der Exotisierung von Tanzkörpern und der Undurchlässigkeit bei der Vergabe von Fördermitteln. Eine Diskussion, die die Vielschichtigkeit von strukturellem Rassismus abbildete. Doch was sich für die von Rassismus betroffenen Teilnehmenden als anregender Austausch und Beginn einer langfristigen Auseinandersetzung darstellte, nahm nach etwa einer Stunde eine andere Wendung.
Nachdem bereits über das Für und Wider von Quoten diskutiert worden war, ergriff Klaus Kieser im Symposium das Wort. Sein erster Einwand: »Ich bin für Qualität.« Kieser ist nicht nur Vorstandsmitglied des Dachverbands Tanz in Deutschland, sondern auch Manager und Dramaturg des Balletts am Saarländischen Staatstheater. Er äußerte sein Unverständnis über den Verlauf der Diskussion, teilte gar mit, dass er nicht verstünde, was hier das Thema sei. Die Diskussion beschrieb er als »ein beliebiges Absondern von Meinungen, die zu keiner Debatte führen. Damit wird es beliebig und fast Zeitverschwendung.«
Die Belegschaft schrieb einen Brandbrief an ihren Vorstand.
Dies wolle er im Vorstand des Dachverbands besprechen, kündigte er zum Abschluss seiner Wortmeldung an. Raphael Moussa Hillebrand, der zu diesem Zeitpunkt als Teil einer Förder-Jury finanziell vom Dachverband abhängig war, nahm das als Drohgebärde wahr und verließ das Symposium. Es ist keine Seltenheit, dass People of Color auf diese Weise »auf ihren Platz« verwiesen werden. Diskriminierungserfahrungen werden nicht ernst genommen, oder es folgen gar direkte Feindseligkeiten. Rassismus wird vielfach nur als solcher (an-)erkannt, wenn das N-Wort fällt. Selten wird sich ein Begriff von strukturellem Rassismus und seinen Auswirkungen gemacht. Das dient dazu, die eigene Machtposition aufrecht zu erhalten und Diskriminierungserfahrungen mundtot zu machen. Die Kränkung und Abwehr, mit der weiße Personen auf Kritik an rassistischem Verhalten reagieren, wird auch »white fragility« (dt. weiße Zerbrechlichkeit) genannt.
Ein Einzelfall, zwei Einzelfälle
Ein Vorwurf, den Raphael Moussa Hillebrand auch an Klaus Kieser richtete. Und unter Umständen hätte sich Klaus Kieser damit auch auseinandersetzen müssen, wäre da nicht eine Struktur, auf die er sich verlassen kann. Über einen Monat äußerte sich der Vorstand des Dachverbands nicht zu dem Vorfall – obwohl Hillebrand darauf drängte. Die Belegschaft schrieb einstweilen einen Brandbrief an ihren Vorstand, in dem dieser dazu aufgefordert wurde, sich zu positionieren und den eigenen Verhaltenskodex gegen Diskriminierung und Machtmissbrauch einzuhalten. Passiert ist über Monate nichts. Zumindest wirkte es für die Belegschaft so. Was nicht bekannt war: Der Vorstand kommunizierte bereits Tage später in interner Runde über das Thema und besprach das Einschalten eines Mediators.
Am 4. Dezember 2020 wurde Nenad Čupić eingesetzt, der bereits für das Internationale Theaterinstitut einen ähnlichen Fall begleitet hatte. Im Mittelpunkt der Mediation sollte die Aufarbeitung der Debatte im Symposium stehen. Doch die Aufzeichnung des Symposium war länger nicht zugänglich. Stattdessen lieferte ein anderes Vorstandsmitglied, Bertram Müller, ein Transkript mitsamt selbsterstellter »Textanalyse«. In dieser »Textanalyse« versucht Müller den Eindruck zu erwecken, er könne als ausgebildeter Psychologe objektiv beschreiben, was vorgefallen war. Das von ihm angefertigte Dokument erhielt zumindest innerhalb des Dachverbands die Bedeutung einer wahrheitsgetreuen Analyse. Nur ist es das eben nicht.
Müllers zweifelhafte Erkenntnis: Kieser sei nur einfacher Teilnehmer an der Debatte, der die Stoßrichtung kritisieren wollte. Kiesers professionelle Rolle und Machtposition werden heruntergespielt. Ganz anders bei der Moderatorin Steinmann: Müller legt nahe, dass die unprofessionelle Reaktion Steinmanns an dem weiteren Verlauf der Debatte schuld sei. Sie bringe »eine persönliche Meinung« hinein und würde »ihre Rolle als Moderatorin [verlassen]«, so der Vorwurf. Raphael Moussa Hillebrand wird als emotional aufgebracht beschrieben. Müller fragt sogar, wer für die Auslösung des Triggers verantwortlich sei: »der Auslöser oder der Getriggerte?« Zur Erinnerung: Hillebrand verließ das Symposium nach Kiesers rassistischen Aussagen. Das ist eine Täter-Opfer-Umkehr und das Absprechen der Wahrnehmung der Betroffenen.
Ärger im eigenen Haus
Nach Monaten des Stillschweigens schrieb die Belegschaft des Dachverbands am 21. April 2021 einen zweiten Brief an den Vorstand. Die Angestellten forderten ihre Chef*innen zum wiederholten Mal auf, sich zu dem Vorfall zu positionieren. Hintergrund des zweiten Briefs war jedoch nicht nur die fehlende Aufarbeitung, sondern ein brisantes Vorkommnis in einem Online-Meeting des Dachverbands am 13. April 2021.
Kieser hatte an einem sogenannten Breakout-Room teilgenommen, der sich mit der Frage nach struktureller Veränderung im Tanz beschäftigte. In der dreißigminütigen Diskussion erläuterte Kieser mehrfach, dass er strukturellen Rassismus nicht anerkenne. Diese Meinung behielt er auch nach dem Aufzeigen mehrerer Beispiele aus der Tanz- und Theaterszene bei. Kiesers problematisches Verhalten im Oktober 2020 ist offensichtlich kein Einzelfall gewesen.
Zwei Tage nach dem zweiten Brief kam dann eine Antwort. Bertram Müller antwortete im Namen des Vorstands und wies die Vorwürfe zurück. Es gebe keine hinreichenden Gründe eine grenzüberschreitende Handlung Kiesers anzunehmen, weshalb sich der Vorstand nicht gemüßigt sehe, weiter tätig zu werden. Und weiter unten in der Antwort dann eine indirekte Drohung: »Ich bitte, mich als Vorstandsmitglied (…) auch darüber zu informieren, wenn Personen öffentlich behaupten, der DTD hätte ein ›Rassismusproblem‹, ohne eine solche Äußerung mit Fakten zu belegen, denn in einem solchen Fall handelt es sich [um] Verleumdung, was ebenfalls unserem Kodex und dem Gesetz widerspricht.«
Der Vorstand des DTD sieht sich nicht in der Pflicht, sich mit der Kritik auseinanderzusetzen. Stattdessen droht er den eigenen Beschäftigten, um eine Weitergabe an die Öffentlichkeit zu verhindern. Der Dachverband Tanz Deutschland zeigt exemplarisch auf, was in unserer Gesellschaft häufig schiefläuft. Raphael Moussa Hillebrand sagt dazu im Gespräch mit ak: »Diskriminierung funktioniert immer über Macht und wenn wir diese Macht nicht einschränken und auch abgeben, dann wird sich daran nichts ändern. Da ist der Dachverband Tanz aber eben nicht anders zu sehen als andere Dachverbände. Wir sollten diesen nicht alleinig verteufeln, denn das System ist das Problem. Aber die Strukturen müssen sich ändern im Dachverband Tanz, und das schneller als im vergangenen Dreivierteljahr.«
Es geht um die kritische Reflexion von Machtstrukturen, die Diskriminierung und Ungleichheit begünstigen und fördern. Doch eben jene Begriffe scheinen vielerorts als Keywords zu verkommen, um vordergründig Workshops zu veranstalten, sich mit Diversität zu schmücken und gleichzeitig eine aufrichtige Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen und Denkweisen, die selbstverständlich genauso in den Kulturbereich eingeschrieben sind, wie auch im Rest der Gesellschaft zu umgehen. »An diesem Punkt muss eine Gesellschaft zeigen, woraus sie gemacht ist: Aus Lippenbekenntnissen oder aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde«, erklärt Raphael Moussa Hillebrand.