Radikaler als ihr Ruf
Was lässt sich aus dem Entstehen und Scheitern der Neuen Linken lernen? Antworten darauf liefert der Historiker Terence Renaud
Von René Thannhäuser
Sie hat derzeit keinen guten Stand: die Neue Linke. Weite Teile der politischen Rechten sind sich darin einig, dass sie – zumeist unter der Chiffre der »68er« – für den Niedergang der westlichen Zivilisation verantwortlich ist. Nach ihrem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen, treibe sie von den Zentren der politischen, kulturellen und medialen Macht aus ihre sinistren zivilisationszersetzenden Projekte voran: Individualismus, Egalitarismus, Feminismus, seit einiger Zeit auch: Postkolonialismus und Gender-Theorie etc. pp.
Und auch unter Linken steht die Neue Linke gegenwärtig nicht sonderlich hoch im Kurs. Angesichts der existenziellen Krise, in der sich die politische Linke befindet, endet so manch eine Ursachensuche bei der Feststellung, dass die heutige offensichtliche gegenseitige Entfremdung von politischer Linken und (Industrie-)Proletariat mit der Neuen Linken begonnen habe. Folglich suchen nun einige ihr Heil in den vermeintlich goldenen Zeiten der Alten Linken. Unter jungen Linksradikalen scheinen »rote« ML-Gruppen so populär zu sein wie lange nicht. Das in Deutschland erfolgreich angelaufene US-Magazin Jacobin will die neulinken Irrwege verlassen und predigt Klassenkampf wie zu Lenins oder zumindest zu Enrico Berlinguers Zeiten. Und das sich gerade formierende Bündnis Sahra Wagenknecht lässt sich programmatisch dezidiert als anti-neulinkes Projekt begreifen.
Globalgeschichte der New Lefts
Dabei ließe sich aus den Entstehungsbedingungen und dem späteren Scheitern der Neuen Linken für die Gegenwart mehr ziehen als kategorische Abwehrreflexe. Bereits 2021 ist in den USA das Buch »New Lefts. The Making of a Radical Tradition« des Historikers Terence Renaud erschienen. In ihm entwirft Renaud eine Globalgeschichte der new lefts. Die antiautoritäre Linke der 1960er Jahre, die gemeinhin als Neue Linke historisiert wird, begreift Renaud dabei als nur einen Ausdruck einer neulinken Bewegung, die er bis zum Linksradikalismus der 1910er und 1920er Jahre zurückführt.
Renaud richtet zugleich den Blick aus der Hoch- und Krisenzeit der Alten Linken (1920er und 1930er Jahre) in die Zukunft und von der antiautoritären Linken der 1960er zurück in die Vergangenheit. Erst dadurch eröffne sich das Phänomen der »new lefts«, also der »neuen Linken« (im Gegensatz zur »Neuen Linken«) als intergenerationaler Bewegung. Dass erst für die antiautoritäre Linke in den 1960er Jahren die Abgrenzungsbezeichnung »Neue Linke« aufkam, führt Renaud auf den großen Unterschied zwischen ihr und früheren neuen Linken zurück: Die Neue Linke kämpfte für eine revolutionäre Modernisierung des Sozialismus erstmals außerhalb der tradierten Organisationen der Arbeiter*innenbewegung und nicht mehr in oder zwischen ihnen.
Die Neue Linke führte ihren Kampf für eine revolutionäre Erneuerung des Sozialismus erstmals außerhalb der tradierten Organisationen der Arbeiter*innenbewegung.
Die »neuen Linken« erscheinen so nicht – wie heute nicht selten kolportiert – als wirre Projekte klassenverräterischer Intellektueller, sondern als Versuche, die Krise der »Alten Linken« (von Sozialdemokratie und Parteikommunismus) produktiv in erneute revolutionäre Aktivität zu überführen. Im Kern all dieser Versuche steht: die Organisationsfrage. Renaud spürt dabei den theoretischen Diskussionen bis zum jungen Georg Lukács nach. Dieser diskutiert die Organisationsfrage nicht nur als taktische Angelegenheit, sondern als Kern präfigurativer Politik: »Ob Partei, Gewerkschaft oder Rat, oder etwas anderes, die Form der politischen Organisation bestätigte die Authentizität des revolutionären Ziels und die Realisierbarkeit der neuen Gesellschaft.« Die Form und die innere Verfasstheit der revolutionären Organisation muss die befreite Gesellschaft antizipieren. Daher die neulinke Aversion gegen die reformistische Massenpartei sozialdemokratischen Typs oder die leninistisch-stalinistischen Kaderparteien einerseits und die positive Bezugnahme auf die Rätebewegungen der Russischen Revolution von 1905 und der Revolutionen in Europa von 1917 und 1918 andererseits.
In das Zentrum seiner Globalgeschichte stellt Renaud eine kollektive Biografie der heute weitgehend vergessenen Gruppe Neu Beginnen, die 1929 als leninistische Organisation gegründet wurde. In ihr kamen vor allem Intellektuelle und ehemalige Kader aus der SPD, der KPD und deren »rechter« Abspaltung KPD-Opposition zusammen. Sie einte die Kritik an SPD und KPD und deren Unvermögen angesichts des Vormarsches des Faschismus in einer proletarischen Einheitsfront zusammen zu kämpfen.
Zunächst arbeitete das konspirative Kadernetzwerk noch an der Unterwanderung der Führungsgremien der Arbeiter*innenorganisationen, um diese von innen revolutionär zu erneuern. Doch Renaud zeichnet schon anhand von Neu Beginnen nach, was das Schicksal vieler späterer Neulinker werden sollte: Auf das Scheitern der Erneuerung folgt die Anpassung und daraufhin die Verteidigung des Status quo gegen die nachfolgenden Generationen revolutionärer Linker. Viele Kader von Neu Beginnen kooperierten während des Zweiten Weltkriegs mit den Westalliierten, wurden angesichts des stalinistischen Grauen zu Antikommunist*innen und nach dem Krieg zu vehementen Befürworter*innen der »Erneuerung« der SPD, die 1959 im Godesberger Programm und somit im Ende als sozialistischer Arbeiter*innenpartei mündete. Der antiautoritären Linken der 1960er Jahre standen sie dann weitgehend ablehnend gegenüber. Doch allein der Einfluss von Persönlichkeiten wie Herbert Marcuse oder Wolfgang Abendroth zeigt, dass die »68er« unmittelbar an bestehende Traditionen anknüpfen konnten, in Renauds Konzepten: an »neulinke« Traditionen.
Unabgegoltene Potenziale
Renaud entwirft in »New Lefts« zwar eine Globalgeschichte im historischen wie geografischen Sinn. Doch im Zentrum steht vor allem die Geschichte der politischen Linken in Deutschland. Dass das Buch bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde und im deutschsprachigen Raum – trotz des unprätentiösen und leicht verständlichen Englisch – praktisch nicht rezipiert worden ist, verwundert daher doppelt. Womöglich, weil die Neue Linke aus Kohortenperspektive bereits eine alte Linke, eine blasse Erinnerung und ein Fall für Historiker*innen ist. Man muss auch Renauds Konstruktion einer »neulinken« Tradition nicht folgen. Doch sein Buch erzählt die Geschichte von unabgegoltenen Potenzialen und Niederlagen, denen sich eine Linke stellen muss, wenn sie nicht bewusst oder unbewusst die Vergangenheit wiederholen möchte.
Und am Ende von Renauds Buch bleibt vor allem ein Eindruck: Sieht man die Gegenwart als eine ähnliche Krisenzeit wie revolutionäre Zeitgenoss*innen den Beginn der 1920er oder der 1960er Jahre an, dann erstaunt es, dass die heutige Linke keinerlei Antworten auf ihre gegenwärtige Krise zu geben in der Lage scheint. Welche Erfahrungen frühere Linke mit dem Versuch des Kaperns sozialdemokratischer Parteien, dem Aufbau neuer leninistischer Avantgarde-Organisationen oder der Revolutionierung eines nicht-revolutionären Proletariats gemacht haben – das alles ließe sich nachlesen.
Terence Renaud: New Lefts – The Making of a Radical Tradition. Princeton University Press, Princeton & Oxford 2021. 361 Seiten, 22,69 Dollar.