Professioneller werden
Von Frédéric Valin
Ich sitze in einem Seminarraum und male ein Plakat. Es geht um Übertragung und Gegenübertragung. Es soll hübsch aussehen, meinte die Dozentin, sie hat sich anders ausgedrückt: Es geht um den kreativen Zugang. Die Noten lägen immer zwischen eins und zwei, während, wenn man eine Seminararbeit abgebe, könne es durchaus auch mal weiter runtergehen auf der Skala. Aber es sei unsere Entscheidung! Aha. Also sitzen wir jetzt da mit Stiften und Kleber, und ich falte einen Papierhut, aus dem ich nachher ein Schiffchen machen werde, und ich werde eine Wasserlinie dranmalen, das wird schön.
Vor dem Seminar gab es zwei Texte zu lesen, einer 15 Seiten, ein bisschen Theorie, einer um die 20 Seiten. Mit langem Fallbeispiel, im Grunde ein großer Rant gegen die medikamentöse Behandlung von ADHS. Quintessenz: Wenn Kinder lernen, dass sie nur dann erträglich sind, wenn sie ihre Pille nehmen, ist das schlecht. Außerdem ist sowieso immer irgendwie die Mutter schuld. Der Text ist von 2001. Zufälligerweise weiß ich, dass sich auf dem Gebiet seither einiges getan hat, aber naja. Es war immerhin ein Text.
Ich habe jetzt schon einige Kurse in Sozialer Arbeit absolviert, ich studiere das nebenher seit drei Jahren online. Das Schlüsselwort ist »nebenher«. Denn an einem sonnigen Novembertag einen halbstündigen Spaziergang zu machen, kann herausfordernder sein als einige der Kurse, die ich bisher absolviert habe. Einer der Präsenzkurse endete damit, dass sich in der letzten Viertelstunde alle Kursteilnehmer*innen im Kreis versammelten, vor einem imaginären Lagerfeuer, die Augen schlossen, und man sollte sagen, was einem so durch den Kopf ging. Es folgten fünf Minuten Stille, bis eine Kommilitonin »Personalausweis« sagte, weil sie ihren bekloppten Personalausweis verlängern musste und gerade daran dachte. Inhaltlich einer der Glanzmomente der Veranstaltung. Es ist im übrigen eine der renommiertesten Hochschulen auf diesem Gebiet deutschlandweit.
Es ist aus zwei Gründen absurd, dass dieses Studium so unterkomplex ist, und zwar jenseits der Tatsache, dass es angesichts der kommenden Herausforderungen schon ganz gut wäre, profund vorbereitete Sozialarbeiter*innen zu haben in dieser Gesellschaft. Der eine Grund ist, dass im Sozialen Abschlüsse eine völlig überdimensionierte Rolle spielen. Tatsächlich mache ich genau den gleichen Job wie die Kolleg*innen (sogar noch ein bisschen administrativen Kram mehr) und werde um einiges schlechter bezahlt: weil ich keinen Abschluss habe. Das ist der einzige Grund. Das und »is halt so, war schon immer so, mit was anderem fangen wir gar nicht erst an«.
Anyway. Einerseits könnte man durchaus annehmen, dass jene Leute, die später einmal mit Menschen zusammenarbeiten werden, die sozialen Härten ausgesetzt sind, dass also jene Leute die Funktionsweisen dieser Gesellschaft studieren sollten. Das ist kaum der Fall. Man kommt sehr gut durch dieses Studium, ohne eine Zeile Foucault, Bourdieu oder Wacquant gelesen zu haben.
Dafür wird den Studierenden gerne vermittelt, dass die Soziale Arbeit professioneller werden muss, ja eine regelrechte Profession zu sein hat, ganz ähnlich jenen Professionen, mit denen es Sozialarbeiter*innen in ihrem Job zu tun haben: Medizin und Jura. Den Vertreter*innen dieser Professionen müsse man auf Augenhöhe begegnen. Man sei eine Menschenrechtsprofession, als seien Menschenrechte etwas, das der Sozialen Arbeit exklusiv am Herzen liege; als müsse das nicht ein generelles Anliegen aller sein.
Wenn ich mir ansehe, was Mediziner*innen allein für’s Physikum für ein Pensum abreißen oder Jurist*innen für’s Staatsexamen, während ich hier Plakate male, die ich nachher in ein imaginäres Lagerfeuer schmeiße, dann kommen mir Zweifel. Dieser institutionelle Minderwertigkeitskomplex ist unnötig, denn es geht nicht um Professionalität, es geht um Solidarität. Das ist, was die Leute, die mit Sozialarbeiter*innen zu tun bekommen, am nötigsten brauchen. Das Gefühl, dass wir alle im selben Boot sitzen.