Prekarität in Neonfarben
Was uns die Dokumentation »Searching Eva« über moderne Krisenexistenzen erzählt
Von Theresa Hartmann
Berlin-Kreuzberg: Vor den Fenstern einer Plattenbauwohnung am Kottbusser Tor explodieren Feuerwerksraketen und färben den Himmel pink. Auf dem Boden vor dem Fenster sitzt eine in Unterwäsche gekleidete Frau im Licht einer Neonröhre und lässt eine Wunderkerze abbrennen. Die Aufmachung, die Farben: alles instagramlike. Norditalienische Provinz: dieselbe Frau kniet auf dem Bett eines komplett in Pastelltönen gestrichenen Kinderzimmers und posiert in Pin-Up-Manier vor ihrer Mutter, die sie dabei fotografiert.
Die Frau aus diesen Szenen nennt sich Eva Collé. Schon mit 14 Jahren macht sie eine Art Kunstfigur aus sich selbst. Seitdem macht Eva alle Stationen ihrer eigenen Identitätssuche öffentlich, bei Instagram oder auf ihrem Blog. Sie ist die Protagonistin der Dokumentation »Searching Eva«, dem Debutfilm der Kölner Regisseurin Pia Hellenthal, der 2019 auf der Berlinale Premiere feierte.
Who is Eva?
Es zeigt sich schnell, dass die im Titel des Films aufgeworfene Frage nicht leicht zu beantworten ist. Denn während man Eva auf ihren Wegen begleitet, entzieht sich die Protagonistin immer wieder einem abschließenden Urteil der Zuschauer*innen. In ihrem Heimatdorf in Norditalien lernen wir Evas Familie kennen. Ihre Mutter, die in eben jenem pastellfarbenen Kinderzimmer im Haus ihrer eigenen Eltern leben muss, weil sie kein Geld hat. Ihren drogensüchtigen Vater, der Teil der Autonomia-Bewegung in Italien gewesen ist und ihr Marx zu lesen gegeben hatte.
Bevor man allerdings auf eine lineare Geschichte hoffen kann, zerstört der Film diesen frommen Wunsch durch radikale Schnitte und setzt überraschend an ganz anderen Stellen wieder an. Etwa bei einer Fashionshow, auf der Eva als Model arbeitet. Ab und an kommentiert sie ihr eigenes Leben. Zum Beispiel, dass sie für drei Tage modeln in Paris weniger Geld bekommt als für einen einzigen Blowjob.
Ihre Follower*innen, deren Kommentare zwischendurch eingeblendet werden, sind von Evas ständig wechselnden Persönlichkeiten zwischen Sexarbeiterin, Model, Feministin, Junkie, Hausfrau, Vagabundin, Kommunistin, Mädchen oder Liebhaberin ebenso überfordert wie man selbst. Diese Überforderung ist das Herzstück der Dokumentation: Anschaulich wird gezeigt, inwiefern feste Identitätskonzepte durch die virtuellen Spielregeln von Plattformen wie Instagram Stück für Stück zerfließen, sogar überflüssig gemacht werden.
Evas Lebensstil fordert uns als Zuschauer*innen immer wieder dazu auf, infrage zu stellen, wie eine Frau »sein sollte«. Das ist gut so. Nur drängt sich im Nachhinein die Frage auf, was daran eigentlich so radikal neu sein soll. Frauen* haben schließlich nicht erst im Zeitalter der Digitalisierung angefangen, vieles gleichzeitig zu sein und gleichzeitig zu tun. Sexarbeiter*innen, die gleichzeitig Hausfrauen, Mütter, Feminstinnen oder drogensüchtig sind, gab es vermutlich schon immer. Nur wird das alles unter den Vorzeichen einer kontrovers geführten Debatte über Identitätspolitk neu bewertet und verhandelt.
Wenn das Patriarchat dich fickt …
Nicht das vermeintlich Neue macht »Searching Eva« zu einem guten Film. Neben der Tatsache, dass Eva mit ihrer radikal-öffentlichen Identitätssuche dazu herausfordert, über Konzepte von Privatsphäre und Subjektivität nachzudenken, zeigt sie uns vor allem, wie die Existenz einer modernen Krisenmigrantin aussieht. Denn Eva ist aus demselben Grund nach Berlin gekommen wie viele andere Twenty-Somethings aus südeuropäischen Ländern: weil die Krise dafür gesorgt hat, dass es zu Hause nichts mehr gibt.
In einer anderen Szene ist Eva auf Wohnungssuche: Sie hält Smalltalk mit einem potenziellen Mitbewohner in ihrem Alter, auf dem Balkon seiner Wohnung. Die beiden scheinen auf einer Wellenlänge zu sein – bis er sie fragt, was sie arbeitet. Als Eva antwortet, dass sie Sexarbeiterin ist, glaubt er, sie mache Witze. Um den Witz weiterzuspinnen, sagt er, er arbeite als Callboy. Im Gegensatz zu ihm nimmt Eva seine Aussagen ernst. Als sich das Missverständnis wenig später aufklärt, könnte die Situation nicht unangenehmer sein.
Armut und Prekarität bewegen sich in »Searching Eva« nicht innerhalb des Koordinatensystems, in dem wir gelernt haben, sie als solche zu erkennen und einzuordnen. Das Bild der aufstrebenden, weltoffenen Künstlerin, das Eva von sich zeichnet, passt nicht mit ihrer ökonomischen Realität zusammen. So zeigt der Film, wie die Grenzen zwischen Armut und Avantgarde im Neoliberalismus verwischen. Unter dem richtigen Instagram-Filter sieht die Welt anders aus. Und für einen Blowjob gibt es eben manchmal mehr Geld als für eine Fashion Show. Oder um es mit Evas Worten zu sagen: »The patriarchy fucks me over every day, so I may as well get paid for it.«