Auf der Suche nach »Abweichung«
Die Ausweitung des Testspektrums der Pränataldiagnostik folgt kommerziellen Interessen – ein Ende ist nicht in Sicht
Von Isabelle Bartram
Der sogenannte nicht-invasive Pränataltest (NIPT) auf Trisomien 21, 13 und 18 ist seit diesem Jahr Kassenleistung in der Versorgung von Schwangeren. Das heißt: Der Bluttest, mit dem nach genetischen Behinderungen wie dem Down-Syndrom beim Fötus gesucht wird, kann von allen gesetzlich versicherten Schwangeren kostenlos in Anspruch genommen werden. Die Tests wurden seit ihrem Markteintritt 2012 in Deutschland aus behindertenpolitischer Perspektive scharf kritisiert. Ein zentrales Argument von Kritiker*innen gegen die Finanzierung der vorgeburtlichen Suche nach Behinderungen durch die Solidargemeinschaft ist das Potenzial der Ausweitung auf immer mehr genetische Abweichungen von einer vermeintlichen Norm – eine berechtigte Sorge angesichts der Entwicklung auf dem Markt für genetische Untersuchungsangebote an Schwangere.
Genetik spielt in der Pränataldiagnostik eine immer größere Rolle. Föten können schon seit Mitte der 1980er Jahre genetisch untersucht werden: Bei einer Chorionzottenbiopsie wird eine Probe der Plazenta entnommen, die zum Teil dem Fötus entstammt, bei einer Amniozentese wird das im Fruchtwasser enthaltene Erbgut des Fötus analysiert. Beide Untersuchungsformen sind zwar relativ genau, sie sind jedoch invasiv und werden mit einer Nadel durch die Bauchdecke durchgeführt. Dabei kann es zu Fehlgeburten kommen. Vor diesem Risiko soll der NIPT Schwangere bewahren. Hier wird ihnen nur Blut abgenommen, aus dem dann DNA des Fötus herausgefiltert und untersucht wird. Die Untersuchung ist jedoch nicht so treffsicher und gilt daher nur als Screening. Ein positiver Befund sollte immer durch eine invasive Diagnostik bestätigt werden.
Marketingstrategie und unternehmerische Technologieentwicklung
Neben den drei genannten Trisomien (bei denen ein Chromosom dreifach statt zweifach vorliegt) bieten verschiedene Firmen ihren schwangeren Kund*innen bereits jetzt als Selbstzahler*innenleistung ein erweitertes Testspektrum für genetische Abweichungen an, zum Beispiel Abweichungen von Geschlechtschromosomen, um eine Intergeschlechtlichkeit des Fötus aufzuspüren.
Nicht nur aus einer queerfeministischen und behindertenpolitischen Perspektive sind diese Angebote äußerst problematisch zu bewerten. Warum, zeigt sowohl ein Blick auf das momentan erhältliche Angebot genetischer Tests im Kinderwunschbereich als auch auf aktuelle genetische Forschung. In Deutschland bewirbt beispielsweise die Firma Eluthia den NIPT Special Unity als einzigen Test in Deutschland, mit dem der Fötus für 499 Euro auf Spinale Muskelatrophie, Mukoviszidose, Sichelzellanämie und Thalassämie geprüft werden könne. Solche sogenannten monogenetischen Erkrankungen, die von der Abweichung eines einzelnen DNA-Bausteins ausgelöst werden, sind sehr selten, aber es gibt viele verschiedene – fast jeder Mensch ist Anlageträger*in für eine oder mehrere potenziell krankheitsauslösende Genvariante(n).
Da jeder Mensch aber zwei Chromosomensätze besitzt, d.h. zwei verschiedene Varianten desselben Gens, entwickeln die meisten Personen gar keine Symptome. Durch die hohe Anzahl der bekannten Erkrankungen dieser Art ist das Ausweitungspotenzial der Tests einzig und allein durch ihre technologische Machbarkeit begrenzt. Dabei geraten auch Erkrankungen in den Fokus, die relativ mild verlaufen können oder gut behandelbar sind. Wer entscheidet, welche Erkrankungen und Behinderungen vorgeburtlich aufgespürt werden sollten? Momentan wird es der Marketingstrategie und Technologieentwicklung der Unternehmen überlassen, die in Konkurrenz zueinander versuchen, ihren Kund*innen möglichst große und einzigartige Angebote machen zu können.
Vermeintliche Sicherheit
Auf eine weitere Problematik der Ausweitung von NIPT machte im Januar eine Recherche der New York Times aufmerksam. Sie zeigt, wie fehleranfällig Testangebote auf sogenannten Mikrodeletionen sind. Das sind kleine, sehr seltene chromosomale Abweichungen. Die Tests bewirken statt der versprochenen Sicherheit vor allem eine Verunsicherung bei vielen Schwangeren, so die Autor*innen. Auch bei dem NIPT auf Trisomie 21 kommen durch verschiedene Faktoren falsch-positive Ergebnisse vor. Das heißt, der Test zeigt eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Trisomie 21 beim Fötus an, dieses Ergebnis ist jedoch falsch. Die Firmen bewerben die erweiterten Screenings als »präzise«, »sicher« und »zuverlässig«.
Neben Trisomie-Tests bieten verschiedene Firmen für Selbstzahlende weitere Tests für genetische Abweichungen an, etwa um eine Intergeschlechtlichkeit des Fötus aufzuspüren.
Doch je seltener Erkrankungen und Behinderungen sind, desto weniger zuverlässig sind auffällige Befunde. Trisomie 21 tritt durchschnittlich bei einer von 700 Schwangerschaften auf und ist damit vergleichsweise häufig. Der in Deutschland erhältliche PraenaTest der Firma Lifecodexx sucht unter anderem nach dem DiGeorge-Syndrom, ausgelöst durch eine Mikrodeletion auf dem Chromosom 22. Diese kommt nur bei einer von 4.000 Schwangerschaften vor. Das heißt: Würden 4.000 Schwangeren den NIPT mit einer Falsch-Positiv-Rate von »bis zu 0,1 Prozent« durchführen lassen, würden vier von ihnen ein positives Ergebnis bekommen, das falsch ist, und nur eine Person ein positives Ergebnis, das richtig ist. 80 Prozent der positiven Ergebnisse sind also falsch. Bei anderen, noch selteneren Erkrankungen sind zum Teil über 90 Prozent der positiven Ergebnisse falsch.
Immer wieder gibt es Schwangere, die aufgrund eines NIPT-Ergebnisses abtreiben, ohne vorher eine zuverlässigere invasive Diagnostik abzuwarten. Auch für diejenigen, die weitere Diagnostik in Anspruch nehmen, ist ein zunächst positives Ergebnis wirkungsmächtig und erzeugt großen Stress und Angst. Die im NYT-Artikel interviewten Betroffenen berichten von ihrer qualvollen Erfahrung. Sie erinnern sich daran, wie sie verzweifelt nach den Auswirkungen von zuvor für sie unbekannten genetischen Syndromen recherchiert, schlaflose Nächte verbracht und ihren Bauch vor ihren Freund*innen versteckt hätten.
Eine weitere Ausweitung des Textspektrums zeichnet sich bereits ab. Was, wenn man den Fötus nicht nur auf seltene genetische Abweichungen durchchecken könnte, sondern auch auf Veranlagungen für weit verbreitete Erkrankungen? In den letzten 20 Jahren haben Genetiker*innen in unzähligen Studien Genvarianten und Eigenschaften statistisch miteinander korreliert. Doch für die allermeisten, auch scheinbar simplen Eigenschaften wie z.B. Körpergröße ließen sich keine einzelnen ursächlichen Gene finden. Stattdessen fanden Forschende jeweils Tausende kleine Genvarianten, die – rein statistisch – nur einen kleinen Effekt auf die Ausprägung einer Eigenschaft haben. Auf dieser Erkenntnisbasis hat sich eine neue Mode in der genetischen Forschung entwickelt: Die Berechnung sog. Polygenic Scores oder Riskscores (PGS), in denen Hunderte, Tausende, zum Teil Millionen kleine Genvarianten zusammengefasst werden.
PGS sollen eine Einschätzung erlauben, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Individuum ein bestimmtes Merkmal nur auf der Grundlage der Genetik hat. Der Nutzen der Methode in der Medizin ist umstritten. Das hält Firmen jedoch nicht davon ab, schon jetzt PGS-basierte Tests anzubieten. Im US-amerikanischen Kinderwunschmarkt-Segment bieten Firmen wie Orchid genetische Anlageträger*innentests für Paare mit Kinderwunsch an, um Risiken für ein breites Spektrum von Erkrankungen wie Schizophrenie, Diabetes, Brustkrebs oder Glutenunverträglichkeit des geplanten Kindes bereits im Vorwege zu ermitteln. Auch für den Einsatz in der Präimplantationsdiagnostik, also der Selektion von Embryonen bei der künstlichen Befruchtung, werden solche Analysen beworben. Letztes Jahr wurde mit Aurea das erste Kind in den USA geboren, das im Embryostadium mit einem solchen Verfahren ausgewählt worden war.
»Genetische Sozialwissenschaften«
Rein wissenschaftlich ergeben diese Tests wenig Sinn. Der Zusammenhang zwischen PGS und untersuchten Eigenschaften ist nicht kausal. Umweltfaktoren, die bei den allermeisten Eigenschaften und Erkrankungsrisiken den größten Einfluss ausüben, werden nicht beachtet. Es gibt keine Validierungs-Studien über die tatsächliche Aussagekraft der Tests – bei Erkrankungen, die zum Teil erst im späten Erwachsenenalter auftreten, sind solche Studien auch kaum machbar. Doch für den kommerziellen Erfolg ist das Funktionieren zweitrangig gegenüber dem Versprechen, »das Beste« für das werdende Kind tun zu tun. Ohne eine entsprechend Marktregulierung ist absehbar, dass PGS auch bei NIPT Anwendung finden werden. Vielleicht nicht zuerst in Deutschland, aber in einer vernetzten Welt erzeugen solche Angebote Wünsche und bestärken den gesellschaftlichen Glauben in die Bedeutung der Gene.
Wer noch einen Blick in die dystopische Zukunft werfen will, kann sich mit dem Forschungsfeld der »genetischen Sozialwissenschaften« beschäftigen. Hier werden – von öffentlichen Geldern finanziert – PGS für Eigenschaften wie Bildungserfolg, Einkommen, politische Einstellung und Sexualverhalten berechnet. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis irgendwo auf der Welt Firmen Marktlücken wittern und werdenden Eltern anbieten, diese Forschungsergebnisse in die vorgeburtliche Auswahl ihres Nachwuchses mit einzubinden.
Bereits die Entwicklung des ersten Tests auf Trisomie 21 in Deutschland durch die Firma LifeCodexx wurde durch öffentliche Forschungs- und Wirtschaftsförderung finanziell unterstützt. Wie Behindertenverbände kritisieren, wurden die Tests ohne eine gesellschaftliche Debatte darüber eingeführt, ob wir eine vorgeburtliche Fahndung nach genetischen Besonderheiten, die medizinisch nicht »heilbar« sind, überhaupt wollen. Statt uns von der Technologieentwicklung überrollen zu lassen, sollten wir überlegen, welche Technologien wir brauchen, um unsere Vorstellung einer solidarischen und inklusiven Gesellschaft umzusetzen, und diese Maßstäbe Forschungsförderung und Gesundheitsversorgung leiten lassen.