Poesie und Beton
Diaty Diallos Roman »Zwei Sekunden brennende Luft« erzählt eine andere Geschichte über die Banlieues
Von Paul Dziedzic
In Interviews muss die Schriftstellerin Diaty Diallo oft die Frage beantworten, ob sie denn prophetische Kräfte besäße. Schließlich erschien ihr Debütroman über den Tod eines Jugendlichen in einer Pariser Vorstadt durch einen Polizisten bereits 2022 in Frankreich. In Deutschland hingegen nur wenige Wochen nachdem Nahel M. im Juni 2023 in Nanterre von der Polizei erschossen worden war. Die traurige Antwort auf die Frage nach ihrer vermeintlichen Wahrsagerei findet sich im Roman selbst. Der verträumte, beobachtende Protagonist Astor sagt darin: »Wir wussten, dass wir einen verlieren werden, aber wir wussten nicht wann. Wir wussten bloß, dass es der sein würde, der zu viel ist.«
Die heftigen landesweiten Proteste und Ausschreitungen nach Nahels Tod haben wenig an der Stadt- und Sicherheitspolitik geändert. Das Polizieren der Banlieues nimmt weiter seinen Lauf. Auch frühere Proteste konnten das von der Regierung von Emmanuel Macron verabschiedete Gesetz nicht verhindern, das den Schusswaffengebrauch der Polizei erleichterte und damit schießwütige Cops empowerte. (ak 695) So gesehen ist es immer wieder nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Jugendlicher erschossen wird.
Diallos Roman soll zwar von einem Pariser Vorort inspiriert worden sein, doch die Tatsache, dass nicht präzisiert wird, von welcher, soll bedeuten, dass es jede Banlieue in Frankreich sein könnte. Die Geschichte folgt Astor, der sein Studium der angewandten Kunst geschmissen hat, um Gärtner zu werden, und seinen Freunden Chérif, einem Jurastudenten, Issa, einem Sozialpädagogen, Nil, einem kreativen Kesselschmied, und dem Musiker Demba. »Unsere Leben sind ruhig. Fast langweilig«, sagt Astor. Die Freundesgruppe trifft sich an der Pyramide, einem zentralen Platz zwischen den Plattenbauten, wo sich an lauen Sommerabenden auch Senior*innen, Kinder, Jugendliche und Familien aufhalten. Die Freunde hören Musik, essen gemeinsam und reden über ihre Zukunft. Doch in der Gegenwart wird ihr Leben immer wieder von der Staatsmacht unterbrochen – eines Tages erschießt die Polizei einen von ihnen. »Die Sirenen und Blaulichter fallen nicht groß auf. Sie gehören zu allen guten Momenten dazu. Deshalb stell ich mir vor, dass die Jungs erst in Anwesenheit der Cops checken, dass sie sich wiedermal rechtfertigen müssen vor Beamten, die ihre Existenz aus Prinzip nicht anerkennen.«
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Jugendlicher erschossen wird.
Diallo stellt die Jugendlichen und ihren Willen, zu leben und sich ein lebenswertes Leben aufzubauen, in den Mittelpunkt. Angenehm ist, dass die bizarren gesellschaftlichen Diskurse, die bestimmt sind von der französischen postkolonialen Politik-Kaste (einschließlich Teilen der Linken) und einer ignoranten bürgerlichen Presse im Roman außen vor bleiben. Die Protagonisten navigieren durch ihr Viertel, nutzen die vielen verlassenen und verfallenen Orte und geben ihnen wieder eine Funktion. Sie sind solidarisch, zählen aufeinander, feiern gemeinsam oder helfen Nachbar*innen mit ihren Einkäufen. Das liegt nicht nur an ihrer Gutmütigkeit, sondern auch an den Umständen und dem permanenten Belagerungszustand. Anders, als erwartet gibt es keine Szenen von Riots. Die Wut und der Zorn finden einen anderen Ausdruck, der schon im Titel des Buches angedeutet wird.
Die Autorin findet eine eindrucksvolle Sprache für die vielen Formen, Farben, Gerüche und Klänge des Viertels und schreibt so eine Poesie der Platten. Für jede Situation gibt es einen passenden Track, von Billy Eilish über Klassiker wie Suga Suga bis hin zu französischem Hip-Hop. Die Leser*innen können nicht wissen, ob sie noch in Astors Gedanken stecken oder ob sie schon vor Ort sind. Der Wechsel zwischen Gedanken, Erinnerungen, Lyrics und den Dialogen ohne Anführungszeichen und poetischen Beschreibungen von Orten und Menschen aus der Vogelperspektive macht die Dynamik des Romans aus. Und es stellt sich die Frage, wer Astor ist: Nur einer der jungen Leute im Viertel oder doch alle?
Während Banlieue-Filme ein eigenes Genre bilden und internationales Renommee genießen, sind die Bücher seltener. Und auch, wenn die Autorin durchaus auf Elemente zurückgreift, die man aus Filmen oder Musikvideos kennt, sind ihre Figuren anders: sanfter, nachdenklicher, politischer. Hinter der Brille des Icherzählers, der seine Freunde liebt, ihnen treu ist und sie beschützen will, scheint eine Autorin zu stecken, die ihnen sehr nahe ist: Sie sind die netten Nachbarn, Freunde oder Cousins, erscheinen makellos, fast zu bruchlos.
Da es so etwas wie den Banlieue-Roman im Mainstream nicht zu geben scheint und deshalb wenig, woran sich orientieren lässt, beschreitet Diallo einen eigenen Weg. In diesem Roman treten die Charaktere aus der ihnen sonst zugewiesene Eindimensionalität heraus. Den Banlieue-Filmen, die ihre männlichen Protagonisten in einer von der Straße geprägten Härte darstellen, fügt sie einen neuen Typus hinzu. Diaty Diallo ist ein beeindruckendes Debüt gelungen, das von den bürgerlichen Medien in Frankreich und Deutschland seltsamerweise oft als wütender Roman interpretiert wird. Es ist eine Kunst, die harten Lebensumstände realistisch darzustellen, und dem Ganzen eine Zärtlichkeit als Widerstand entgegenzusetzen, die nicht im Kontrast, sondern im Einklang mit der Wut über die unhaltbaren Zustände steht.
Diaty Diallo: Zwei Sekunden brennende Luft. Aus dem Französischen von Nouria Behloul und Lena Müller. Assoziation A, Berlin 2023. 192 Seiten, 20 Euro.