Etwas ganz anderes sagen
Vor 20 Jahre starb Pierre Bourdieu. Ein Gespräch des Soziologen mit Toni Morrison liefert Erhellendes über Identitätspolitiken und Kunst
Von Jens Kastner
Einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts starb am 23. Januar 2002 in Paris: Pierre Bourdieu. Rund acht Jahre zuvor, im Oktober 1994, unterhielt er sich in der französischen Hauptstadt mit der Schriftstellerin Toni Morrison. Aus dem Gespräch der beiden Intellektuellen lässt sich auch heute noch einiges Lernen – nicht nur über Kunstschaffen und Identitätspolitiken.(1) Bourdieu möchte Morrison dazu anregen, Dinge zu sagen, die sie bisher nicht explizit gemacht hat. Dabei geht es gleich ums Ganze: um die Schwierigkeit, als Schwarze Schriftstellerin nicht immer für und als Schwarze zu sprechen und um die Ignoranz gegenüber den literarischen Qualitäten ihres Werkes und das anderer Schwarzer Schriftsteller*innen. Nicht zuletzt geht es auch um das Verhältnis von Literatur und Soziologie schlechthin.
Literatur von Schwarzen werde nach wie vor häufig auf die ethnische Zugehörigkeit ihrer Autor*innen zurückgeführt, sagt Bourdieu. Sie werde deshalb im Zweifel als minderwertig, bloß als Folklore, nicht als Kunst wahrgenommen. Dadurch falle sie aus den spezifischen Bewertungskriterien heraus, die an Kunst angelegt werden. Die Kunstwahrnehmung, das ist eine der zentralen Thesen in Bourdieus Kunstfeldtheorie, hat sich historisch erst als eine ästhetische Disposition herausbilden müssen, als eine Haltung also, die bestimmte Arbeiten und Gegenstände nicht nach ihrem praktischen Nutzen beurteilt. Die Erwerbsbedingungen dieser Haltung – sozialer Status, Zugang zu Bildung usw. –, werden dabei verschleiert. Das führt dazu, dass das Privileg, Dinge nicht danach befragen und bewerten zu müssen, ob sie praktisch nützlich sind, »stillschweigend zur universellen Norm einer jeden Praxis (…) wird, die sich als ästhetisch versteht«.
In der Folge werden Praktiken, die sich noch an alltäglichen oder religiösen Kontexten anlehnen, also irgendwie auf Nützlichkeit bezogene Folklore sind, abgewertet. Der Effekt für die Literatur von Schwarzen besteht darin, dass wie beim Jazz häufig nicht Struktur und ästhetische Finesse, sondern Rhythmus und Gefühl gesucht und gefunden werden. Bis heute sehen Menschen, die aus (einstmals oder aktuell) marginalisierten Positionen heraus im Kunstfeld reüssieren, sich vor das Problem gestellt, in erster Linie als Vertreter*in dieser jeweiligen Gruppe adressiert zu werden.
Opferstatus und Widerstand
Morrison stimmt Bourdieu zu und betont, wie demütigend es ist, immer bloß als jemand wahrgenommen zu werden, der/die sagt: »Au, das tut weh!« oder »Ich protestiere«. Opferstatus und Widerstand, beide erscheinen als zwei Seiten einer Medaille. Diese Münze heißt Dominanzgesellschaft. Ihre strukturellen Settings produzieren und reproduzieren ständig kollektive Zuschreibungen wie Schwarz/weiß, Mann/Frau, heimisch/fremd usw., denen die Einzelnen nicht entkommen können. Wer als Schwarze diskriminiert wird, muss sich zunächst als Schwarze dagegen artikulieren, sonst wird gar nicht klar, was weh tut, worin also das Leiden besteht und wogegen sich der Protest richtet.
Um den gesellschaftlichen Stereotypisierungen zu entgehen, ist der identitätspolitische Rekurs auf den Opferstatus zwar ebenso notwendig wie die widerständige Praxis. Die aber ist unendlich vielfältig, gerade innerhalb von und als Literatur und bildende(r) Kunst. Morrison betont, dass sie immer darum bemüht ist, den vorgegebenen Mustern zu entkommen. Aber die Rezeption lässt sich damit nur schwer steuern. Als wollte sie die Triftigkeit von Bourdieus Feldtheorie in dieser Sache bestätigen, sagt sie: »journalists are restricted by the limits of their profession«. Die Grenzen ihres Berufes bestehen in dem, was Bourdieu die Feldspezifik ihrer Arbeit und ihres Denkens nennen würde: Aktualitätsgebot, schnelle Textproduktion, Zeichenzahl- und Stilvorgaben, und in Bezug auf den Gegenstand das Aufgreifen statt Hinterfragen bestehender Kategorien: »Je breiter das Publikum ist, auf das ein Presseorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt«, beschreibt Bourdieu in seinem Buch »Über das Fernsehen« ein charakteristisches Merkmal des journalistischen Feldes, »je stromlinienförmiger muss es sich verhalten«. Schließlich kann die Theorie gesellschaftlicher Felder neben dem Hinweis auf die spezifischen Bewertungskriterien innerhalb eines Feldes außerdem noch aufzeigen, dass Praktiken immer auch von ganz bestimmten Erwartungen geprägt sind. Die Journalist*innen, soll das heißen, sehen vor allem das Vorgesehene, im Fall Schwarzer Literatur also in der Tendenz das Natürliche, das Magische, das Folkloristische.
Sprache kann auch ein Ort des Widerstands sein.
Wie jede*r Künstler*in möchte Morrison selbstverständlich am liebsten ganz für sich stehen, etwas genuin Neues erschaffen. Anders als viele ihrer Kolleg*innen aber ist sie sich durchaus dessen bewusst, dass es bei künstlerischem Schaffen immer um das Modifizieren und Modellieren von bereits Dagewesenem geht. Künstlerisches Schaffen bewegt sich immer zwischen zwei Polen, dem totalen Bruch mit der erlernten (Bild-)Sprache auf der einen und die vollkommene Anpassung an sie auf der anderen Seite. Im literarischen und künstlerischen Feld ist aber der Bruch, will er akzeptiert und anerkannt werden, auch darauf angewiesen, seine feldgeschichtliche Expertise auszuweisen: Die Überschreitungen der Avantgarden, schreibt Bourdieu in »Die Regeln der Kunst«, seien »selbst das Ergebnis einer ganzen Geschichte« der Kunst bzw. der Literatur. Bourdieu fragt Morrison dann, wie sie sich aus dieser Klemme sowohl auf literarischer wie auch auf kultureller Ebene befreit habe. Morrison beschreibt die Sprache als entscheidendes Schlachtfeld, auf dem sich beherrschte Gruppen innerhalb jeder Gesellschaft zu verteidigen hätten. Die Selbstverteidigung ist kein Selbstzweck, sondern notwendig, um nicht nur die eigene Sprache, sondern auch die eigene Würde zu schützen. Insofern kann Sprache laut Morrison auch ein Ort des Widerstands sein. Im 20. Jahrhundert beim Schreiben die englische Sprache zu benutzen, eröffne aber auch die Möglichkeit, sich zwischen vielen ihrer Ebenen hin- und herbewegen zu können. Die Sprachebenen zu vermischen kann für Morrison eine Methode sein, etwas ganz anderes als das Erwartbare zu sagen.
Sehen, was nie gesehen war
Ob und inwiefern es möglich ist, fragt Bourdieu Morrison daran anschließend, die Wahrnehmungen von Romanfiguren als Schwarz oder weiß zu unterlaufen. Schließlich handele es sich um »fundamentale Wahrnehmungskategorien«, ohne die die Geschichte von Personen nicht zu verstehen sei. Und ob sie in ihrem Schreiben durch diese komplexe formale Aufgabe geleitet sei, die auch eine politische Aufgabe ist: die Utopie einer Welt, in der die Kategorisierung in Schwarz und weiß keinerlei Bedeutung mehr hat. Morrison bejaht dies und schildert ihre Arbeit an einem Roman, der 1998 mit dem Titel »Paradise« erschien, als Beispiel: Es sei eigentlich nahezu unmöglich, das Seelenleben eines Menschen abzubilden, ohne sich auf die Kategorie »race« zu beziehen. Es fehle letztlich die Sprache dafür.
Bourdieu hatte in seinem Werk immer wieder die Schwierigkeiten betont, eine solche neue Sprache jenseits bestehender Kategorien zu entwickeln. Er beschreibt die strukturellen Hürden für das Entstehen eigener Sprachen und Sprechweisen selbst weniger entlang von »race« und Ethnizität, als vielmehr von Klasse und später auch Geschlecht: Im »proletarischen Lebensstil« sah er weniger eine widerständige Praxis als vielmehr Ausdrucksformen jener Prägung, mit dem die kapitalistische Arbeitsteilung laut Marx die Lohnarbeiter*innen zum »Eigentum des Kapitals« stempelt. Im Habitus der Marginalisierten sieht Bourdieu vor allem in seinem Hauptwerk »Die feinen Unterschiede« in der Tendenz immer »die Anpassung an die objektiven Möglichkeiten« – und weniger das Aufbegehren. Auch im Hinblick auf das mögliche Aufbrechen der Geschlechterhierarchie war er skeptisch. Die Geschlechterdualismen seien historisch tief in die Dinge und Körper eingeschrieben, schreibt er in »Die männliche Herrschaft«, sie seien »nicht aus einem bloßen Benennungseffekt hervorgegangen und können daher auch nicht durch einen Akt performativer Magie aufgehoben werden«.
Morrison geht es immer darum, an dem Versuch festzuhalten, der Leserin durch die Literatur die Möglichkeit zu eröffnen, zu sehen, was sie niemals zuvor gesehen hat. »Darin«, sagt Morrison zum Schluss, »besteht meine Hoffnung«. Entgegen aller Vorwürfe, die soziale Welt als determiniert und unveränderbar zu beschreiben, hat Bourdieu diese Hoffnung stets auch in Bezug auf seine Soziologie geteilt.
Anmerkung:
1) Das Gespräch findet sich unter »To see as we never see«: dialogue between Pierre Bourdieu and Toni Morrison« im Netz.