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Wer ist hier der Dieb?

Ein mutmaßlicher Pariser »Beutekunstdieb« legt die Abgründe eurozentristischer Legalität offen

Von Eric Otieno Sumba

Mwazulu Diyabanza stellt durch seine Aktion im Musée Quai Branly in Paris die Frage: Wer ist hier eigentlich der Dieb? Screenshots: Youtube

Es geschah vor laufender Kamera, live gestreamt auf Instagram am 12. Juni 2020. Mwazulu Diyabanza, der Protagonist, trägt ein langes schwarzes Oberteil, eine Tonperlenkette und ein Barett, die an die Black Panthers erinnert. Kurz davor kauft er, zusammen mit vier anderen Aktivisten, Eintrittskarten für das Musée Quai Branly in Paris. Er schaut sich im Museum um und erzählt über die kulturelle Enteignung, die dieses Museum wie kein anderes in Frankreich symbolisiert. Sie seien heute im Museum, um abzuholen, was ihnen gehört, sagt er. In einer der Galerien nimmt er dann mühsam einen aus der Region des heutige Tschad stammenden Begräbnispfosten aus seiner Halterung und begibt sich, umgeben von seinen Kollegen, zum Ausgang.

Nach wenigen Minuten wird er aufgehalten. Der Museumswärter, ein schwarzer Mann, versperrt ihm missbilligend den Weg, während ein weißer Museumsbesucher im Hintergrund zuschaut. Obwohl er im Redefluss ist, entgeht Diyabanza die Ironie der Situation nicht: »Einen Dieb muss ich nicht um Erlaubnis bitten, um einen gestohlenen Gegenstand zurückzuholen«. Er bezeichnet alle inzwischen eingetroffenen Museumswärter als »Komplizen«, bevor er sich umdreht und in eine andere Richtung weitergeht. Die Polizei wird informiert, während die verbliebenen Wärter eine Menschenkette bilden, um den Ausgang zu versperren. Als die Polizeibeamten eintreffen, bittet Diyabanza sie um Hilfe bei der Identifikation und Provenienz der Objekte im Museum, damit sie schneller nach Afrika zurückgeführt werden können. Überhaupt nutzt Diyabanza seine Redezeit gut aus: In dem etwa halbstündigen auf Youtube verfügbaren Livestream schweigt er kaum.

Die Inszenierung ist kraftvoll und Diyabanza wirkt sichtlich ermächtigt, gar legitimiert davon. Ähnliche Aktionen hat er in der südfranzösischen Stadt Marseille (Juli) und im niederländischen Berg en Dal (September) inszeniert. Und seine Strategie scheint aufzugehen: Die Pariser Aktion schlug hohe Wellen und die Aktivisten landeten wegen versuchten gemeinschaftlichen Diebstahls eines Kulturgutes Ende September vor Gericht.

Den Fall als Diebstahlversuch abzuweisen, wäre zu einfach. Er ist vielschichtiger, weil für seine Beurteilung mindestens zwei entgegengesetzte Bewertungen zugrunde liegen, die weiter nicht auseinander liegen könnten. Dieser gedankliche Konflikt lässt sich auf die Frage zuspitzen, wer hier eigentlich wen beklaut hat. Das Urteil über die Aktion sollte einen Ball ins Rollen bringen, der erhebliche Auswirkungen auf den juristischen Umgang mit Beutekunst aus kolonialen Kontexten in Frankreich und darüber hinaus haben könnte. Darauf schienen die Aktivisten und die Verteidiger zu hoffen, trafen aber auf gut vorbereitete Richter, die die komplexen kolonialen Verflechtungen schnell auszuräumen wussten. Zehn Jahre Gefängnis und 150.000 Euro Geldstrafe wären möglich gewesen, aber sie kommen mit einer Geldstrafe von 2000 Euro davon.

Eintrittsgeld für Diebesgut

Der 41-Jährige ist Sprecher einer panafrikanischen Bewegung, die sich für Reparationszahlungen europäischer Länder für Kolonialismus, Sklaverei und kulturelle Enteignung einsetzt. Der im Kongo geborene und in Frankreich lebende Aktivist begründete die Aktion mit dem Umstand, dass er Eintrittsgeld bezahlen musste, um etwas zu sehen, das gewaltsam weggenommen wurde und dahin zurück gehört, wo er herkommt. Er habe nicht die Absicht gehabt, das Werk zu stehlen, sondern lediglich plakativ Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen. Aktivisten und Verteidiger betrachteten den Fall als einen Prozess darüber, wie ehemalige Kolonialmächte für vergangene Verbrechen sühnen sollten.

Im Gerichtssaal bestand der Richter seinerseits darauf, dass sich der Prozess auf den konkreten Vorfall konzentrieren sollte und dass sein Gericht nicht befugt sei, über die Kolonialzeit Frankreichs zu urteilen. Französische Beamte prangern den Vorfall an, er bedrohe die Fortsetzung der 2018 vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron eingeleiteten Verhandlungen mit afrikanischen Ländern über legale, organisierte Restitutionswege. Sämtliche Beobachter*innen sind sich scheinbar einig: Die Aktion scheitert an ihrer Illegalität, denn fremdes Eigentum, in diesem Fall ein aufwendig restauriertes Objekt, ist im wahrsten Sinne des Wortes unantastbar. Dass am Prozesstag zahlreiche Interessierte und Aktivist*innen erschienen, spricht für eine Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung in einer Zeit, in der ehemals unstrittige Kolonialdenkmäler vielerorts fallen. Das Momentum des Sommers scheint integraler Bestandteil der Strategie.

Strukturierte Enteignung und leere Versprechungen

Im April 2018 hatte Macron in einer Rede an der Universität in Ouagadougou in Burkina Faso versprochen noch innerhalb seiner Amtszeit geraubte Objekte zurückzugeben. Tatsächlich gab er einen Bericht über die Sachlage in Auftrag, der im November desselben Jahres veröffentlicht wurde und eine kleine Schockwelle durch die ethnologische Museumslandschaft Europas schickte. Dem Bericht zufolge befanden sich rund 85 bis 90 Prozent der afrikanischen Kunstwerke und Kulturgegenstände außerhalb des afrikanischen Kontinents, und zwar in den größten musealen Sammlungen der Welt, so wie im Pariser Museum Quai Branly.

Zwei Jahre später läuft die vollmundig versprochene Restitution schleppend: von 27 angekündigten Rückgaben wurde nur ein Gegenstand tatsächlich zurückgegeben. Der oben genannte Bericht dokumentierte hingegen, dass allein im Museum Quai Branly 70.000 der geschätzten 90.000 Objekte aus ehemaligen Kolonien in französischen Nationalsammlungen beherbergt werden. Zum Vergleich: Das Ethnologische Museum in Berlin beherbergt rund 500.000 Objekte aus der Kolonialzeit.

Dass der Kolonialismus grundsätzlich ein Unrechtsregime war, ist größtenteils unstrittig. Dass vermeintlich »legale« Dokumente und Verträge aus der Zeit bis heute größtenteils ihre Gültigkeit behalten haben, ist einer der wichtigsten »Errungenschaften« des Kolonialismus geschuldet, nämlich der Neuauflage von strukturierter Enteignung. In westlichen Auseinandersetzungen mit den kolonialen Verstrickungen des Eigentumskonzepts haben sich laut Politikwissenschaftler Robert Nichols in seinem Buch Theft is Property (Diebstahl ist Eigentum, 2019) zwei Argumentationslinien bewährt: Entweder man universalisiert eine vermeintlich allgemeine Besitzlogik als den angemessenen normativen Maßstab rückwirkend seit Menschengedenken – oder man verleugnet die Enteignung als solche von vornherein, wobei die Schlagkraft von späteren Besitzabtretungsanspruchen (etwa Rückgabeforderungen) im Voraus untergraben wird. Sowohl die Universalisierung als auch die Verleugnung funktionieren am besten, wenn sichergestellt wird, dass (vereinfacht gesagt) die Rechtsnormen und -auslegungen des Diebes lange nach dem Diebstahl sowohl für den Dieb als auch für den Geschädigten ihre Gültigkeit behalten.

Dass das Recht immer die Besitzenden bevorteilt, ist kein Geheimnis, denn privates Eigentum ist Heiligtum. Nach Nichols Argument läge das große Paradox der meisten Rückgabeforderungen auf der Hand: einerseits könnten die »Objekte«, die eigentlich keine sind, strenggenommen nicht als Eigentum betrachtet werden. Andererseits bleibt den jeweils Geschädigten oft nichts Erfolgversprechendes mehr übrig als das Argument, dass die »Objekte« von ihren rechtmäßigen Eigentümer*innen gestohlen oder im Rahmen von asymmetrischen Austauschverhältnissen (also unter Zwang, Verträge hin oder her) überreicht wurden. Zudem gelten kulturelle »Objekte« aus Afrika nur dann als von Belang oder Ausdruck »afrikanischer Kultur«, wenn sie in einem europäischen Museum aufbewahrt werden. Andernfalls (oder gleichzeitig) gilt Afrika für Europa als kulturlos, eine widersinnige, aber altbewährte europäische Denkweise, die selbst bei Hegel und anderen großen Denkern der Aufklärung gepflegt und verfeinert wurde und teilweise bis heute fortgeführt wird.

Beim Raubgut kultureller Natur geht es aber auch um Wissen und Deutungshoheit, denn erst wenn alle Kulturen »erschlossen« sind, kann man den Anspruch erheben, die überlegenste Kultur zu sein. Darum, unter anderem, geht es in Benedicte Savoys Buch Die Provenienz der Kultur. Museen und die darin enthaltenen Artefakte aus aller Welt dienen nach wie vor als Beweis für die »Vermessung und Erschließung« der Welt in westlichen Gesellschaften. Die europäischen Museen sind, so die Kunsthistorikerin, direkte Erben der im Rahmen der Französischen Revolution entstandenen Idee, dass die intellektuelle Aneignung von Kunst- und Wissensobjekten notwendigerweise an deren materielle Aneignung gekoppelt sei.

Die Dominanz europäischer Perspektiven

Die Dominanz europäischer Perspektiven in der Restitutionsdebatte ist vor diesem Hintergrund kaum überraschend. Fachsprache dient hier oft dazu, die grundlegenden ethischen und politischen Fragen zu vernebeln und den offenen und transparenten Restitutionsprozess zu verhindern, um die sich etwa das Projekt Open Restitution oder das International Inventories Programme bemühen. Europäische Akteure erscheinen dann eher als Handelnde, die afrikanischen Akteure wiederum als Wartende. Genau darin liegt die subversive Kraft von Diyabanzas Aktionen. Zu sehen, wie ein Gegenstand aus einem europäischen Museum von einem Afrikaner hinausgetragen wird, irritiert Wahrnehmungsgewohnheiten und löst eine unbegründete, aber existenzielle Angst aus: Allein die Vorstellung eines leeren Museums scheint ausreichend, um das kulturelle Selbstverständnis Europas fundamental infrage zu stellen. Diyabanza und Kollegen verkörpern Restitutionsforderungen in einer Weise, wie wir sie noch nie gesehen haben, und bringen damit den Diskurs um koloniale Beutekunst weiter, als es Feuilletons und Fachkonferenzen tun können.

Eric Otieno Sumba

ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Bis 2021 forschte er im Rahmen der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Nachwuchsforschungsgruppe »Protest und Reform in der globalen politischen Ökonomie aus der Perspektive einer postkolonialen Politikforschung« an der Universität Kassel.