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|ak 708 | Geschichte

Zwischen Stalinismus und Sozialdemokratie

Vor 60 Jahren starb Palmiro Togliatti. Über seine Verdienste und Fehler wird weiter gestritten

Von Jens Renner

Ein Foto aus einem Landungsboot heraus, auf einen Strand, dort Panzer, Soldaten und Militärfahrzeuge
Britische Truppen landen auf den Rücken ihrer Panzer auf Sizilien. Togliattis propagiertes Bündnis mit den Westallierten ist bis heute umstritten. Foto: gemeinfrei

War er nun Sozialist, Kommunist, Stalinist – oder doch eher Sozialdemokrat? Unzweifelhaft hat Palmiro Togliatti (1893–1964) im Laufe seines mehr als ein halbes Jahrhundert dauernden politischen Lebens einige Wendungen vollzogen. In Deutschland wie auch in Italien ist es vor allem eine »traditionssozialistische« Strömung, die in erster Linie die Kontinuität seines Wirkens betont. Demnach setzte Togliatti das Werk Antonio Gramscis (1891–1937) fort und nahm die »eurokommunistischen« Ideen Enrico Berlinguers (1922–1984) in Teilen vorweg.

Zumindest formal gibt es diese Kontinuitätslinie wirklich: Alle drei standen lange Jahre an der Spitze des Partito Comunista Italiano/PCI (bis 1943 Partito Comunista d’Italia/Pcd’I). Ein vierter, der ehemalige Partisanenkommandeur Luigi Longo (1900–1980), wird in den Rückblicken auf die PCI-Geschichte meist am Rande erwähnt: Er war nur von 1964 bis 1972 Generalsekretär des PCI. Togliatti dagegen führte die Partei von 1926 bis zu seinem Tode im August 1964, nach Gramscis Tod 1937 wurde er auch offiziell dessen Nachfolger.

Wie er selbst sein Wirken bis 1956, acht Jahre vor seinem Tod, wertete, zeigt die damals auch auf Deutsch erschienene Biografie von Marcella und Maurizio Ferrara. Lange Passagen seiner Antworten auf ihre Fragen sind darin wörtlich wiedergegeben. Die beiden Autor*innen lobt der Interviewte für ihre »gewissenhaften Nachforschungen«. Nur an einigen Stellen habe er den Text »umgearbeitet« – so dass die dem Publikum übergebene Darstellung »in allem der Wahrheit entspricht«.

Stalins Gefolgsmann

Diese ausdrücklich autorisierte »Wahrheit« hat es in sich. Eine bis heute immer mal wieder diskutierte Kontroverse zwischen Togliatti und Gramsci kommt gar nicht erst vor: Im Oktober 1926 schrieb letzterer im Auftrag des italienischen Politbüros einen Brief, den Togliatti, damals PCd’I-Vertreter bei der Kommunistischen Internationale (Komintern), an die sowjetischen Genoss*innen weiterleiten sollte. Darin kritisierte er die Opposition, namentlich Trotzki, Sinowjew und Kamenjew, mahnte aber die Mehrheit um Stalin und Bucharin, nach ihrem Sieg über die Minderheit »auf exzessive Maßnahmen zu verzichten«. In seiner Antwort verteidigte Togliatti die »gewisse Härte« im Kampf mit der Opposition und forderte die italienischen Kommunist*innen auf, ihre »unbegrenzte Übereinstimmung« mit der Mehrheitslinie zu bekunden. Auf Anraten Bucharins verzichtete er darauf, Gramscis Brief an die KPdSU und die Komintern weiterzuleiten.

Das konnte Gramsci nicht akzeptieren. In einer kurzen Antwort verteidigte er die italienische Position. Das war, kurz vor Beginn von Gramscis langjähriger Haft, der letzte Kontakt mit Togliatti. Ihre Zusammenarbeit fällt vor allem in die Jahre 1920–22, die Zeit der Turiner Fabrikrätebewegung und der gemeinsam mit Angelo Tasca und Umberto Terracini herausgegebenen Zeitschrift L’Ordine Nuovo.

Als Führungsfigur des 1921 gegründeten PCd’I geriet Togliatti 1923, nach der Machtübernahme Mussolinis, vorübergehend in Haft. 1926 konnte er nach Deutschland emigrieren. Zwischen 1937 und 1939 kämpfte er in Spanien gegen Franco, die meiste Zeit seines Exils aber verbrachte er in der Sowjetunion. Wie unzählige andere Komintern-Kader passte er sich an – in Opposition zu Stalin hätte er wohl kaum überlebt.

Dass er dessen Politik noch 1956 verteidigte, beweist allerdings auch tiefe Übereinstimmung. So erklärte er die Fraktionskämpfe in der KPdSU um 1926 seinen Interviewer*innen noch 30 Jahre später betont linientreu. Nach Lenins Tod habe sich gegen die Sowjetunion »eine Art Einheitsfront von Chamberlain bis Trotzki« gebildet; Trotzki habe schon immer gegen die bolschewistische Partei gekämpft, während Stalin »an den entscheidenden Stellen während der Revolution und des Bürgerkrieges den Sieg gesichert« habe; Stalin sei der Mann gewesen, »an den man sich wenden musste, um genaue, klare und einfache Hinweise für die Lösung der schwierigsten Probleme zu erhalten«.

Mit Togliattis Verklärung Stalins war es allerdings wenig später abrupt vorbei. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 hielt Nikita Chruschtschow seine berühmte »Geheimrede«, die bald weltweit bekannt wurde: eine Abrechnung mit dem »Personenkult« um Stalin und mit dessen Verbrechen. Auf Selbstkritik verzichtete Chruschtschow, und auch Togliatti hatte sich nichts vorzuwerfen. Zumindest behauptete er das, wie Rossana Rossanda in ihrer Autobiografie »Die Tochter des 20. Jahrhunderts« mit Befremden schreibt. »Wir haben nichts gewusst, wir konnten es nicht wissen«, habe er damals gesagte – für Rossanda eine Ausrede: »Er, der im Exekutivausschuss der Internationale saß, hatte nichts gewusst, nichts geahnt?«

Der italienische Weg – wohin?

Dabei war er auch in seiner Moskauer Zeit keineswegs durchgehend der angepasste Parteisoldat, der möglichst wenig auffallen wollte. Auf dem 6. Kongress der Komintern im Sommer 1928 provozierte er offenen Protest, als er die – vom kommunistischen Mainstream geleugnete – Stabilisierung des faschistischen Regimes in Italien zu erklären versuchte. In Anknüpfung an Gedanken Clara Zetkins wandte er sich gegen »abstrakte Verallgemeinerungen« in der Faschismusdiskussion und gegen die Gewohnheit, »jede Form der Reaktion mit diesem Ausdruck zu bezeichnen«. Auch sei der frühe Faschismus nicht nur kapitalistische Reaktion, sondern zugleich eine Bewegung des ländlichen Kleinbürgertums gegen einen Teil der alten herrschenden Klassen gewesen.

Mit seinen »Lektionen über den Faschismus« wurde er zu einem Wegbereiter der von der Komintern 1935 offiziell beschlossenen Politik der antifaschistischen Einheitsfront. Angewandt auf Italien, führte sie im März 1944 zur »Wende von Salerno«: An die Stelle der unmittelbaren Orientierung auf die sozialistische Revolution trat ein breites Bündnis aller antifaschistischen Kräfte, um gemeinsam mit den Westalliierten die deutsche Besatzungsmacht und ihre italienischen Hilfstruppen zu besiegen. Die Frage der Staatsform – Italien war auch während des Faschismus eine Monarchie – sollte erst später entschieden werden.

Allerdings scheiterte auch die von Togliatti propagierte Vision einer »progressiven Demokratie«.

Große Teile der Neuen Linken der 1960er Jahre und auch etliche ehemalige Partisan*innen, die ihre Waffen behalten hatten, sahen darin nichts als Opportunismus, wenn nicht Verrat an der Revolution. Dass die 1945 in Italien möglich gewesen wäre, muss – schon angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse – bezweifelt werden. Allerdings scheiterte auch die von Togliatti propagierte Vision einer »progressiven Demokratie«. Auf die Verabschiedung der vom Antifaschismus inspirierten Verfassung und dem Referendum für die Republik folgte die jahrzehntelange Vorherrschaft der Democrazia Cristiana. Auch die Neofaschist*innen konnten sich neu formieren. Togliatti hatte als Justizminister eine Amnestie für »Mitläufer« von Mussolinis Regime verfügt und 1946 auch die – verfassungswidrige – Gründung des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) toleriert. Nicht weil es ihm an persönlichem Mut gefehlt hätte. Im Juni 1948 überlebte er schwer verletzt das Attentat eines faschistischen Studenten. Das löste einen mehrtägigen Generalstreik und Massendemonstrationen aus.

Auch nach seinem plötzlichen Tod im August 1964 gingen Hunderttausende auf die Straße, um seine Lebensleistung zu würdigen. Dazu gehören nicht zuletzt seine Impulse für eine neue Art kommunistischer Organisierung in einer Partei, die zugleich Kader als auch Massen erfasste und letzteren ein weit gespanntes Netz von Treffpunkten bot, wo Platz war für kulturelle Aktivitäten und politische Debatten. Richtig ist der Einwand, dass es sich beim PCI um eine von festangestellten Männern dominierte zentralistische Partei handelte. Das galt allerdings auch für die weitaus kleineren »Bruderparteien«, deren Mitglieder jahrzehntelang neidvoll auf das italienische Vorbild blickten.

Als Togliatti starb, war sein politisches Vermächtnis noch unbekannt: das Memorandum von Jalta, das er kurz zuvor verfasst hatte. Ernsthaft diskutiert wurde es in der Partei nicht. Auch Lucio Magri, 1969 Gründungsmitglied der Il-Manifesto-Gruppe und der gleichnamigen Zeitung, entdeckte, wie er in seinem Buch »Der Schneider von Ulm« schrieb, erst Jahre später das Neue in Togliattis letztem Text: die Warnung an die KPdSU vor einem endgültigen Bruch mit der chinesischen KP in einer Zeit imperialistischer Offensive und wachsender Kriegsgefahr. Zugleich forderte Togliatti auch für die Sowjetunion die »Überwindung des Regimes der Beschränkung und Unterdrückung der demokratischen und persönlichen Freiheiten« in allen Bereichen.

Mit dieser ungebetenen Einmischung in Moskauer Belange ging er über die Formel vom »italienischen Weg zum Sozialismus« hinaus, den er schon seit der sowjetischen Intervention 1956 in Ungarn verteidigt hatte. Es muss offen bleiben, ob daraus etwas Größeres hätte werden können als sozialdemokratische Reformpolitik.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.