Ostdeutsch und krisenfest?
Die Einschränkungen aller Lebensbereiche durch »Corona« treffen auf dem Gebiet der früheren DDR auf eine andere Erfahrung von Gesellschaft als im Westen
Von Marcel Hartwig
Schlange stehen, engmaschige Polizeikontrollen im öffentlichen Raum und Improvisationstalent im Alltag. Alles wie früher? Können Ostdeutsche durch ihre Erfahrungen in der DDR und Transformationsgesellschaft mit dem gegenwärtigen Ausnahmezustand besser umgehen? Das Lob ostdeutscher Duldsamkeit ist ebenso ambivalent wie lineare Vergleiche der historischen Gegebenheiten in der DDR mit der heutigen Situation.
Doch richtig ist: Die Einschränkungen aller Lebensbereiche durch »Corona« treffen in Ostdeutschland auf eine vom Westen abweichende zeitgeschichtliche und soziale Erfahrung von Gesellschaft. Dies führt zu einer anderen Sichtweise auf den Krisenverlauf der vergangenen Wochen. Unter Rückgriff auf ostdeutsche Identitätsdiskurse eine besondere ostdeutsche Krisenfestigkeit zu behaupten, steht allerdings in der Gefahr, regressive und autoritäre ostdeutsche Traditionen zur Bewältigung der gegenwärtigen Situation heranzuziehen. Gleichzeitig bergen kollektive Erfahrungen mit praktizierter Solidarität und Zusammenhalt auch Möglichkeiten, auf diese lernend und erinnernd Bezug zu nehmen.
Höhere Akzeptanz von Einschränkungen
Seit Tagen bringt der MDR jeden Abend die fast gleich lautende Nachricht, dass die Zahl der Verstöße gegen die seit Wochen wegen »Corona« geltenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens im Sendegebiet gering oder jedenfalls sehr überschaubar seien. Ganz überwiegend hielten sich die Einwohner*innen Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens diszipliniert an die Reglementierungen, die unter dem Begriff »Kontaktverbot« so weitgehend in den Alltag der Menschen eingreifen wie seit Jahrzehnten keine Maßnahmen mehr. Wie ist das zu erklären?
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) konstatierte in Der Welt: »Staatliche Autorität wird auf dem Gebiet der ehemaligen DDR offenbar stärker akzeptiert als in der alten Bundesrepublik.« Wie zur Bestätigung dieser behaupteten besonderen Autoritätshörigkeit las sich zu Beginn der Coronazeit in Deutschland die Nachricht, eine Mehrheit der Ostdeutschen wünsche sich noch schärfere Maßnahmen als die bis dahin erlassenen. Das Ordnungsamt der Stadt Magdeburg bat darum, von weiteren telefonischen Meldungen aus der Bevölkerung über Bagatellverstöße gegen die Verordnungen abzusehen. Sachsen-Anhalt war auch eines jener Bundesländer, die sich zunächst eine Mitführungspflicht des Personalausweises, ähnlich der Regelung zu DDR-Zeiten, in den Corona-Erlass schrieben, ehe dieser Passus nach massiver öffentlicher Kritik zurückgenommen wurde.
Der gesellschaftliche Kontext, auf den die Maßnahmen in Ost und West treffen, könnte verschiedener kaum sein. Abgesehen von Ost-Berlin und Leipzig gibt es in Ostdeutschland keine Metropolregionen, in denen auf engstem Raum mehr als 500.000 oder gar Millionen Menschen leben. Jahrzehntelange Abwanderung, geringere Einkommen und ein hoher Altersdurchschnitt der Bevölkerung nehmen bremsenden Einfluss auf die soziale und räumliche Mobilität der Menschen im Osten. Somit sind materielle Ressourcen und Gelegenheiten des Konsums gegenüber westdeutschen Metropolregionen reduziert.
Wer wie – statistisch gesehen die Mehrheit im Osten – wenig verdient, kann sich einen Ski-Urlaub in Österreich oder Italien schlicht nicht leisten.
Die höhere Akzeptanz von Einschränkungen des öffentlichen Lebens wäre demnach nicht konformistischen, spezifisch ostdeutschen Verhaltensmustern und Mentalitäten geschuldet, sondern hätte durchaus messbare soziale Ursachen. Wer wie – statistisch gesehen die Mehrheit im Osten – wenig verdient, kann sich etwa einen Ski-Urlaub in Österreich oder in Italien schlicht nicht leisten.
Der ostdeutsche Ministerpräsident Reiner Haseloff beschwört jedoch in dem erwähnten Welt-Interview regelrecht eine spezifisch ostdeutsche Resilienz im Umgang mit Krisen und Umbrüchen. Anders als in Westdeutschland habe man im Osten über Jahrzehnte gelernt, mit andauernden Zuständen der Ungewissheit und Unsicherheit umzugehen. Diese Diagnose ist nicht falsch, jedoch in ihrer Pauschalität wertlos. Denn über eine kollektive Erfahrung des Umganges mit materiellem Mangel und Einschränkungen der individuellen Freiheit verfügt im Osten nur die Generation der heute zwischen Mitte vierzig und über siebzigjährigen Einwohner*innen. Zudem gilt es, die kollektive Reaktion auf staatliche Eingriffe in die Privatsphäre in der Zeit der DDR zu unterscheiden von jenen sozialen Umbrüchen, die die Transformationsphase der frühen 1990er Jahre prägten.
Narrative der Mangelgesellschaft
Verglichen mit osteuropäischen Ländern wie Rumänien und Polen war die Versorgungslage mit Grundnahrungsmitteln in der DDR seit dem Ende der 1960er Jahre stabil. Dennoch waren leere Regale ein wiederkehrendes Phänomen, auf das die Bevölkerung mit Strategien der Selbstversorgung reagierte. Bestimmte Güter waren generell knapp, wenn ihre Produkte auf westlichen Importen wie Schokolade und Kaffee fußten oder diese aus Gründen des Devisenerwerbs aus eigener Produktion in den Export gingen. Dem Konsumverhalten in der Mangelgesellschaft lag zudem eine eigene Psychologie des Kaufverhaltens zu Grunde. Gerüchte, ein Produkt sei knapp, steuerten dieses ebenso, wie solche, andernorts gebe es etwas zu kaufen, was im eigenen Umfeld nicht verfügbar war.
Abgesehen von einer kurzen Zeit der Ausgangssperre nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 gab es zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der DDR so massive innerstaatliche Beschränkungen der Bewegungsfreiheit wie jetzt. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit blieben auf das der Grenze vorgelagerte Sperrgebiet beschränkt.
Sozialer Zusammenhalt und soziale Kontrolle waren über Mechanismen staatlich organisierter Alltagsdenunzination in den Ostblockstaaten enger miteinander verbunden als im Westen. Doch die DDR-Gesellschaft barg auch Freiräume, in denen sich solidarischer Eigensinn entfalten konnte.
Der öffentliche Raum war jedoch von einem engmaschigen Netz sozialer Kontrolle durchzogen. Dies sollte unvorhersehbare Ereignisse verhindern, die als Politikum und Gefahr für die Legitimität von Herrschaft angesehen wurden. Sozialer Zusammenhalt und soziale Kontrolle waren über Mechanismen staatlich organisierter Alltagsdenunzination in den Ostblockstaaten enger miteinander verbunden als im Westen, wo es ebenfalls zeitgeschichtliche Phasen hohen kulturellen und politischen Konformitätsdrucks gab. Als Idealtypisch kann der ABV, der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, gelten, der in seinem Amt die Rolle des fürsorgenden Sozialarbeiters mit jener des niedrigschwellige Sanktionen aussprechenden Polizisten verband.
Doch die DDR-Gesellschaft barg auch Freiräume, in denen sich ein solidarischer Eigensinn ihrer Bürger*innen entfalten konnte. Die Umstände der Mangelwirtschaft und die zumindest teilweise Abwesenheit der Logik von Profit und Warenfetisch brachten Modelle solidarischen Handelns hervor, die seitens des Staates mal aktiv gefördert, mal geduldet wurden. Ob ehrenamtliche Baubrigaden in Gartensparten oder organisierte Strukturen der Nachbarschaftshilfe und Kommunikation im Stadtteil: Manche dieser sozialen Praxen sind es wert, daraufhin angesehen zu werden, welches Potenzial sie haben, die Erfahrbarkeit von konkreter Solidarität zu stärken.
Der derzeitige Appell an Nachbarschaftshilfe, Solidarität und sozialen Zusammenhalt stehen im Widerspruch zu einer fragmentierten und individualisierten Gesellschaft, in der Lern- und Erfahrungsorte der Solidarität in die Defensive geraten sind. Diese unter Rückgriff von Erfahrungen solidarischen Handelns im Alltag der DDR wieder fruchtbar zu machen, könnte Teil einer emanzipatorischen Perspektive auf die gegenwärtige Situation sein.
Hoher Preis der Krisenresilienz
Der lobende Verweis aus Medien und Politik auf die in den Jahren gesellschaftlicher Transformation erworbene Krisenkompetenz zweier Generationen in Ostdeutschland appelliert dagegen (gewollt oder ungewollt) an eine passive Duldsamkeit der Bevölkerung im Osten gegenüber allerlei Einbußen mit dem Hinweis, man habe dort schon andere Krisen durchgestanden. Die Frage ist, zu welchem Preis diese Krisenresilienz erworben wurde. Die ökonomische Schocktherapie der 1990er Jahre hat in Ostdeutschland bis heute tiefe Spuren in der Gesellschaft und in den Lebensläufen hinterlassen, die mit dem zynischen Verweis auf die krisenbedingte Anpassungs- und Innovationsbereitschaft nicht vom Tisch zu wischen sind.
In den Umbrüchen der 1990er Jahre ebenso wie heute waren und sind es überwiegend Frauen, die in der Sphäre gesellschaftlicher Reproduktion die emotional-kommunikative Sorgearbeit sicherstellen, so dass soziale und psychische Belastungen der Krise im Hinblick auf Kinder, Alte und Kranke getragen und gesellschaftlich eingehegt werden können. Der derzeitige Wegfall der im Osten an die 100-Prozent-Quote reichenden Kinderbetreuung trifft Frauen besonders hart. Die zeitgeschichtlich bedingte ökonomische Unabhängigkeit ostdeutscher Frauen hat in den Jahren des Umbruchs bereits viele Rückschläge erlitten und wird in dieser Situation von nun wiederkehrender Kurzarbeit unter den Bedingungen fehlender Kinderbetreuung und geringerer Löhne zur Falle erneuter Zementierung regressiver Rollenbilder.
Wer die aktuellen Appelle an die erprobte Krisenfestigkeit der Ostdeutschen verstehen will, sollte sich die Motive der Absender*innen genau ansehen. Denn jene, die jetzt ostdeutsche Krisenfestigkeit loben, sind nicht selten die gleichen, die in denen vergangenen Jahrzehnten die niedrigen Löhne im Osten als Standortvorteil anpriesen.