Olympia, die Nazis und die Erfindung der Weiblichkeit
Der Autor Michael Waters zeigt, wie das Geschlechterregime im Sport entstand
Von Agnes Laffert
Als der tschechische Sprint-Star Zdeněk Koubek, der bei den Women’s World Games 1930 einen Weltrekord im 800-Meter-Lauf aufgestellt hatte, im Jahr 1935 zum ersten Mal mit Männerkleidung zur Arbeit kommt, ruft seine Kollegin bewundernd »How chic you are« – so beschreibt es der Autor Michael Waters in seinem Buch »The Other Olympians: Fascism, Queerness and the Making of Modern Sports«. Weltweit berichten Zeitungen wohlwollend über die Transition des erfolgreichen Athleten, Mediziner*innen sehen Koubeks vermutete Intersexualität als Beispiel für die Fluidität und Impermanenz von Geschlecht, das, so damals schon der wissenschaftliche Stand, keine klaren Grenzen hat.
Zur selben Zeit planen führende Vertreter des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) die Austragung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Verfolgungen unter dem Nazi-Regime sind für sie nicht mehr als »another public relations headache« (etwas, das »der PR Kopfschmerzen bereitet«), die antifaschistische Boykott-Bewegung gilt es zum Schweigen zu bringen. In diesem Kontext beginnt der Sportarzt Heinrich Knoll, NSDAP-Mitglied und Anhänger eugenischer Lehren, parallel zur Entfernung »unpassender Elemente«, das heißt jüdischer und nicht-weißer Personen, aus dem Sport für die Einführung von Geschlechtskontrollen bei weiblichen Athletinnen zu werben.
Koubeks Geschichte dient ihm dabei, entgegen der positiven öffentlichen Rezeption, als warnendes Beispiel für den angeblichen sportlichen Vorteil der »Mann-Frauen«. Mit seinen Bemühungen rennt er offene Türen beim späteren IOC-Vorsitzenden Avery Brundage sowie Hitlers Sportfunktionär Karl Ritter von Halt ein, die die ab 1936 in Verdachtsfällen angeordneten Geschlechtstests ab der ersten Nachkriegs-Olympiade 1948 zunächst im einflussreichen Leichtathletikverband IAAF (heute World Athletics) verpflichtend durchsetzen. Das ist kein Zufall, denn in der Leichtathletik, der Disziplin mit dem größten Anteil von Athlet*innen aus rassifizierten Minderheiten und niedrigen sozialen Schichten, gibt es aus ihrer Sicht viele »zweifelhafte« Fälle.
Helen Stephens, US-amerikanische Siegerin im 100-Meter-Lauf 1936 in Berlin, war eine der ersten, die sich auf Druck öffentlicher Beschuldigungen, ein Mann zu sein, einer Geschlechtsuntersuchung unterziehen musste.
IOC und IAAF werden zu den ersten Institutionen weltweit, die die strukturelle Überwachung von Geschlecht zu ihrer Aufgabe erklären, und dienen damit der heute normalisierten staatlichen Reglementierung von Geschlecht als Vorbild. Angesichts der massiven Auswirkungen, bleibt die IAAF in ihrem Vorhaben aber geradezu unfassbar vage: Welche Frauen werden des »gender frauds«, also des Geschlechtsbetrugs verdächtigt? Frauen, die sich rasieren, muskulöser sind oder tiefere Stimmen haben? Frauen, die Weltrekorde brechen? Frauen – so lässt es der spätere historische Verlauf vermuten – aus kommunistischen Ländern? Nach wie vor bleiben Details von Geschlechtstests aus gutem Grund unter Verschluss: Es handelt sich dabei um nicht mehr als subjektive Entscheidungen von Sportverbänden. Anfangs wurden dafür invasive Genitaluntersuchungen vorgenommen, später Chromosomenpaare getestet, heute ist es oft, aber nicht immer, der Testosteronspiegel. All diese Vorgehen eint: Sie sind willkürlich, denn ein biologisch isolierbarer Faktor, der »männlich« von »weiblich« unterscheidet, existiert nicht – das Fehlen einer Definition ist der Fiktionalität ihres Gegenstands geschuldet.
Im Zuge der jüngsten Hasskampagne gegen die algerische Boxerin Imane Khelif macht die Lektüre von »The Other Olympians« ungläubig: Basiert die Obsession mit »richtiger« Weiblichkeit im Sport wirklich auf nicht mehr als dem Bauchgefühl eines nazifreundlichen IOC-Vorstands und dessen Ablehnung gegen »unfeminine« Frauen? Das Argument, es ginge bei Geschlechtskontrollen um Fairness (warum gibt es bei Männern dann keine Obergrenze für Testosteron?) und den »Schutz der Frauen« (welcher?), ist im besten Fall Ausdruck des naiven Glaubens an die Legitimität einer binären Aufteilung im Sport. Im schlimmsten Fall ist es Ausdruck eugenischer transmisogyner Ideologie mit dem Ziel, die Kategorie Frau von sogenannten Abweichungen zu »reinigen«. Wenn J.K. Rowling in Khelif »das Grinsen eines Mannes« erkennen will, geht es ihr, wie vielen vor ihr, um die Disziplinierung äußerlicher »Femininität«. Angesichts eines so eng entlang rassistischer und klassistischer Linien gezogenen Weiblichkeitsbegriffs ist das Argument »Khelif ist nicht trans« als Entgegnung irrelevant (die liberale Erleichterung über Khelifs Cisness ist an sich suspekt) und bestärkt vielmehr die Panik um die pseudowissenschaftliche »Bedrohlichkeit« von trans und intersex Athletinnen.
Anhand einzigartiger Archivfunde erzählt Waters die Geschichten von Sportler*innen wie Zdeněk Koubek, dem britischen Kugelstoß-Champion Mark Weston, dessen Geschlechtsanpassung wie die Koubeks große mediale Aufmerksamkeit erregte, oder Helen Stephens, US-amerikanische Siegerin im 100-Meter-Lauf 1936 in Berlin, die sich auf Druck öffentlicher Beschuldigungen, ein Mann zu sein, einer der ersten Geschlechtsuntersuchungen unterziehen musste. Auf beeindruckende und berührende Weise legt Waters die Verstrickung dieser Schicksale in die Entstehung des olympischen Geschlechterregimes offen – fesselnder als jeder Roman, absolut augenöffnend und wegweisend für eine freiere Zukunft nicht nur des Sports.
Michael Waters: The Other Olympians: Fascism, Queerness and the Making of Modern Sports. Farrar, Straus and Giroux, New York 2024. 368 Seiten, 30 US-Dollar.