»Zuerst den Sexismus ausschalten«
Kurt Cobains Todestag jährt sich zum 30. Mal – der Nirvana-Sänger positionierte sich immer wieder feministisch, seine früheren Bandkollegen sind da kontroverser
Von Isabella Caldart
Zweimal spielten Nirvana die ersten Takte ihres größten Hits »Smells Like Teen Spirit«, nur um direkt wieder abzubrechen, dann rockte die Band ein mäßiges Set runter, bis der Auftritt in der Kakophonie von »Endless, Nameless«, eigentlich ein Hidden Track auf ihrem Album »Nevermind«, endete. Dass ihr Konzert am 30. Oktober 1992 in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires so unterdurchschnittlich war, lag daran, dass Kurt Cobain, Dave Grohl und Krist Novoselic es absichtlich sabotierten. Das männlich dominierte Publikum hatte die Vorband ausgebuht, eine unbekannte feministische All-Female-Gruppe namens Calamity Jane aus Portland, Oregon. Abgefuckt von den Reaktionen zahlten Nirvana es den Besucher*innen heim, indem sie ihren größten Hit, den alle hören wollten, nicht spielten. »Das Publikum hatte den Song nicht verdient«, sagte Bandleader Kurt Cobain später in einem Interview.
Diese Anekdote ist typisch für Kurt und Nirvana. In einer Zeit, da der Feminismus allgemein, vor allem aber von Männern belächelt wurde und insbesondere in der Rockmusik eine Machoattitüde vorherrschte, vertraten er, Bassist Krist Novoselic und Schlagzeuger Dave Grohl eine gegenteilige Einstellung. Bereits in einem frühen New-York-Times-Porträt, das wenige Tage nach der Veröffentlichung von »Nevermind« im September 1991 publiziert wurde, stellte Krist klar: »Wir sind feministisch. Sexismus ist genauso schlecht wie Rassismus. Und wir sind total links.«
Einfluss der Riot Grrrls
Während sich Dave mit Aussagen zurückhielt – was auch daran lag, dass er erst spät zur Band gestoßen war und sich deswegen eher als am Rande stehend empfand – nahmen Kurt und Krist kein Blatt vor den Mund, wenn es um Politik ging. Bei Krist hatte das viel mit seiner familiären Prägung zu tun. Krist, der als Kroate zweiter Generation in den USA lebte und in Jugendjahren ein Jahr in der Heimat seiner Eltern verbracht hatte, wurde früh politisiert. Kurts feministische Einstellung wiederum rührte vor allem aus seiner großen Empathie für marginalisierte Menschen. Durch seine Freundschaft mit Vertreterinnen der Riot Grrrls, allen voran Kathleen Hanna und Tobi Vail, kam er in Kontakt mit feministischer Theorie. Er wusste um den Einfluss von Bands mit Leadsängerinnen wie Bikini Kill oder Sonic Youth auf die Rockwelt, wie er in einem Interview mit dem Musikmagazin Spin 1993 etwas ungelenk erläuterte: »Rock ’n’ Roll ist erschöpft. Aber Rock ’n’ Roll war auch immer männlich. Gerade in den vergangenen Jahren gibt es eine Menge Girlgroups. The Breeders und die Riot Grrrls haben alle etwas damit zu tun. Die Leute akzeptieren endlich Frauen in solchen Rollen.«
Während die Komplexe Race und Rassismus Kurt ebenfalls beschäftigten, stand für ihn der Kampf um Gleichberechtigung für Frauen und queere Menschen im Vordergrund. Schon als Teenager hatte er in der konservativen Kleinstadt Aberdeen in Washington State, wo Kurt Cobain aufwuchs, einen schwulen Freund. Auch später setzte er sich nicht nur für LGBTQ-Rechte ein, sondern trat selbst auch gerne in Kleidern, mit Eyelinern oder Nagellack auf – ein absoluter Gegenentwurf zu anderen Bands jener Zeit wie Guns N’ Roses, die sich wiederholt rassistisch, sexistisch und queerfeindlich äußerten. Kein Wunder, dass Axl Rose der erklärte Erzfeind von Kurt Cobain war.
Und wir sind total links.
Krist Novoselic
Über die Rolle weißer Männer hatte Kurt schon vor Nirvana nachgedacht; die Riot Grrrls gaben ihm einen weiteren Push. In einem Brief an Tobi Vail, mit der er kurzzeitig zusammen war, aus dem Frühling 1991 reflektiert Kurt die Privilegien weißer Männer: »Ein Ismus speist den anderen, aber am Anfang der Nahrungskette steht immer noch der weiße, industriehörige, kraftstrotzende Macho (…) Klassismus wird durch Sexismus bestimmt, weil der Mann entscheidet, ob alle anderen Ismen weiter existieren (…) Man muss zuerst den Sexismus völlig ausschalten, ehe man was gegen die anderen Ismen unternehmen kann.«
Gerade sexualisierte Gewalt gegen Frauen beschäftigte Kurt sehr. Seine Einstellung war für diese Zeit außergewöhnlich: »Das Problem bei Gruppen, die sich mit Vergewaltigungen befassen, besteht darin, dass sie versuchen, Frauen darüber aufzuklären, wie sie sich verteidigen können«, sagte er im November 1991 gegenüber der Musikzeitschrift NME. »Was wirklich getan werden muss, ist Männern beizubringen, nicht zu vergewaltigen. Geht zur Ursache und beginnt dort.« Das haben auch heute viele noch nicht begriffen.
Zahlreiche Benefizkonzerte
Nirvanas Engagement beschränkte sich aber nicht nur auf Phrasendrescherei. Die Band trat oft auf Benefizkonzerten auf, etwa gegen den Measure-9-Gesetzentwurf. Dieser stammte von einer homofeindlichen Bürgerinitiative, die versuchte, Homosexualität als »abnormal und pervers« zu brandmarken und auf dieselbe Stufe wie Pädophilie oder Sadismus zu stellen. »Measure 9 verstößt gegen die US-amerikanischen Traditionen des gegenseitigen Respekts und der Freiheit, und Nirvana möchten ihren Teil dazu beitragen, Bigotterie und Engstirnigkeit überall zu beenden«, heißt es in einem Pressestatement, das vor dem Konzert veröffentlicht wurde.
Andere Benefizauftritte waren für Vergewaltigungsopfer in Bosnien oder im Oktober 1991 beim ersten Konzert von Rock for Choice, organisiert von der feministischen Punkband L7, um für die Stärkung des Rechts auf Abtreibung einzutreten. Im November 1992 spielten Nirvana zugunsten der Washington State Music Coalition, die gegen das sogenannte Erotic Music Bill protestierte, das vorsah, Jugendlichen unter 18 Jahren den Zugang zu Musik mit »unangemessenen« Texten zu verwehren. Viele Musiker*innen befürchteten (aus gutem Grund, immerhin war George Bush Senior US-Präsident) staatlich auferlegte Zensur. Mit der Rockmusikerin Courtney Love zusammen trat Kurt im September 1993 außerdem bei Rock Against Rape auf.
Dieser Text ist eine leicht modifizierte Version des Kapitels »Nirvana und die Politik« aus dem Buch »Nirvana. 100 Seiten« von Isabella Caldart, das am 20. März bei Reclam erscheint. Foto: Buchcover / Verlag Reclam
Aber kein Mensch ist frei von Fehlern und Widersprüchen, und auch Kurt ist da keine Ausnahme. Wenige Tage vor der Geburt seiner Tochter Frances Bean am 18. August 1992 war ein Artikel erschienen, in dem es hieß, Courtney Love habe während der Schwangerschaft Heroin konsumiert (nachweislich machte sie kaum, dass sie davon erfuhr, einen Entzug), und der sie und Kurt generell als Junkies darstellte. Der Skandal war nicht nur rufschädigend für die Band und das Ehepaar Cobain-Love, er zog auch einen monatelangen Sorgerechtsstreit um Frances nach sich. Und dann erfuhren Kurt und Courtney auch noch, dass zwei britische Journalistinnen planten, ein unautorisiertes Buch über die beiden zu schreiben. Das war zu viel für Kurt und Courtney: Sie hinterließen mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, in denen sie die Frauen bedrohten.. Kurt waren die Widersprüche zu seinem sonstigen Verhalten bewusst. »So rede ich normalerweise nie«, sagte er dem Musikjournalisten Michael Azerrad. »Das war das erste Mal, dass ich so rachsüchtig, sexistisch und unheimlich war. Ich wollte so extrem und irrational wie nur möglich auftreten, um ihnen Angst zu machen.« Es klingt nach Einsicht, aber nicht nach Reue.
Selbsterklärter Anarchokapitalist
Nach Kurt Cobains Tod am 5. April 1994 und dem Ende von Nirvana wandte sich Krist Novoselic verstärkt dem politischen Engagement zu. Im Oktober 2004 veröffentlichte er sein Buch »Of Grunge and Government: Let’s Fix this Broken Democracy!«, in dem es weniger um Grunge und vor allem um die Organisation von Grassroots-Bewegungen geht. Krist ist primär in der Lokalpolitik engagiert, aber manchmal macht er auch auf Bundesebene von sich reden. Zeitweise war er aktiv bei den Demokraten, später ließ er sich als unabhängiger Wähler registrieren. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 sprach er sich für Barack Obama aus, wandte sich aber später wegen ihrer Top-down-Struktur (statt Grassroots) wieder von der Demokratischen Partei ab. 2016 unterstützte er Gary Johnson von der Libertären Partei bei seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl, und im März 2023 schloss er sich Andrew Yang und seiner Forward Party an.
Für einen kleinen Eklat sorgte Krist, als er im Sommer 2020 in einem (kurz darauf gelöschten) Facebook-Post eine Rede von Donald Trump lobte, der im Zuge der Demonstrationen nach dem Mord an George Floyd das US-Militär in die Städte schicken wollte: »Der Präsident sollte keine Truppen in die Staaten schicken – und rechtsgültig ist das wahrscheinlich ohnehin nicht – nichtsdestotrotz war der Ton in seiner Rede stark und direkt.« Nach massiver Kritik ruderte er zurück und postete ein paar Tage später: »Ich unterstütze den Faschismus nicht, und ich unterstütze auch keinen autoritären Staat. Ich glaube an eine zivilisierte Gesellschaft und dass wir alle darauf hinarbeiten müssen.« In einem Interview mit dem libertären Sender Reason TV beschrieb er sich im Jahr 2014 als »Anarchokapitalist, Sozialist, Gemäßigter … Ich weiß es nicht«, und sagte, dass er sowohl in linken wie rechten Philosophien Fehler erkennen würde.
Dave Grohls dunkle Vergangenheit
Dave hält sich in seiner politischen Positionierung etwas bedeckter als Krist. Auch nach Nirvana setzte er sich für LGBTQ-Rechte sowie für strengere Waffengesetze ein, außerdem trat er 2012 mit den Foo Fighters bei einer Convention der Demokraten auf, um die Wahlkampagne von Barack Obama zu unterstützen, und 2021 beim Amtsantritt von Joe Biden. Allerdings besuchte Dave das Weiße Haus auch auf Einladung das damaligen Präsidenten George W. Bush und ließ sich mit ihm sogar fotografieren, auch wenn er in seiner Autobiografie schreibt: »Gelinde gesagt, deckte sich meine politische Haltung nicht mit der unserer damaligen Regierung.« 2017 sagte er in einer Rolling-Stone-Titelstory über die Tatsache, dass sich auch Trump-Wähler*innen unter seinen Fans befinden: »Wir spielen für alle. Ich mag den Gedanken, dass Musik etwas ist, das zwei entgegengesetzte Seiten des Spektrums zusammenbringen kann.«
Dave zeigte bisweilen allerdings auch eine politisch äußerst kritikwürdige Haltung, die dem Bestreben Nirvanas, an der Seite von queeren Menschen zu stehen, entgegenläuft. Um sie muss man wissen und aktiv im Internet nach den Spuren suchen. Jahrelang verbreiteten die Foo Fighters nämlich eine Verschwörungstheorie, laut der Aids ungefährlich sei und nicht mit HIV in Verbindung stehe. Die Band (allen voran der Gitarrist Nate Mendel) unterstützte die Non-Profit-Organisation Alive & Well AIDS Alternatives von Christine Maggiore (die 2008 selbst an einer aidsbedingten Krankheit starb, wie auch sehr wahrscheinlich – sie wurde nie getestet – ihre drei Jahre alte Tochter im Jahr 2005). Alive & Well setzt sich dafür ein, dass Menschen keine HIV-Tests machen, behauptet, Safer Sex sei unnötig, und fordert, dass diejenigen, die HIV-positiv sind, keine entsprechenden Medikamente nehmen. Im Januar 2000 spielten die Foo Fighters sogar ein Benefizkonzert in Los Angeles für die Organisation.
Weder in den Biografien der Band noch in Daves Autobiografie wird eine Verbindung zu Maggiore und Alive & Well auch nur angedeutet. Die Banner, die bis März 2003 auf der Website der Foo Fighters eingeblendet wurden, sind lange in Vergessenheit geraten. Wer googelt, findet aber Artikel darüber sowie Fotos von Dave mit Christine Maggiore. Eine Entschuldigung dafür, dass die Band so lange tödliche Falschinformationen über HIV und Aids verbreitet hat, gibt es bis heute nicht. Das ist umso enttäuschender, weil Kurt und Nirvana schon Anfang der 1990er Jahre für eine klare politische Haltung standen.