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|ak 710 | Alltag |Reihe: Motherhoods

Weihnachtsmann

Von Jacinta Nandi

Ein Weihnachtsmann steht am Strand.
Wie geht es eigentlich dem Weihnachtsmann? Hat er genug, um alle Kinder zu beschenken. Und wenn er genug hat: Warum gibt es es dann nicht den Armen? Foto: Juliescribbles/Wikimedia, CC BY-SA 4.0 Deed

Manchmal merke ich, dass mein jüngster Sohn die Lebenskostenkrise sehr mitkriegt. Beispiel Nummer eins: Beim Hotelfrühstücksbuffet wirkt er wie ein verbitterter, aber auch panischer Ostdeutscher. Er bellt mir immer zu: »SIND EIER EIGENTLICH TEUER, WENN MAN SIE IM SUPERMARKT KAUFT? WENN JA, NEHME ICH GLEICH ZWEI! SIE SOLLTEN DEN LACHS NACHFÜLLEN – DER LACHS IST FAST ALLE! Soll ich einem Mitarbeiter Bescheid geben? IST ORANGENSAFT TEUER? WENN ORANGENSAFT TEUER IST, TRINKE ICH EIN GLAS, OBWOHL ICH IHN EIGENTLICH NICHT MAG. Mama, guck mal, da gibt’s Wassermelone. Teuer UND lecker. Dürfen wir den ganzen Teller mit zu unserem Tisch nehmen?« Und wenn sein kleiner ostdeutscher Bauch endlich voll ist, streichelt er zufrieden darüber und flüstert: »Sollen wir noch ein paar Brötchen mit auf’s Zimmer nehmen?«

Sein großer Bruder, geboren 2004, als Berlin noch erträglich war, kannte trotz seiner ostdeutschen Gene diese verbitterte Panik nicht. Am Frühstücksbuffet aß er immer genau ein Ei und ein Brötchen, dann hörte er auf, weil er satt war. »Das Essen ist umsonst!«, flüsterte ich ihm dann manchmal zu. »Aber ich habe keinen Hunger mehr«, antwortete er.

Beispiel Nummer zwei: Mein kleinster Sohn macht sich Sorgen, dass der Weihnachtsmann sich seine Geschenke nicht leisten kann. »Ganz schön teuer, dieser Turtles Truck«, sagt er. »Denkst du, dass sich der Weihnachtsmann das wirklich leisten kann? Er sieht so arm aus?«

Es gibt Eltern, die ihre Kinder nicht anlügen wollen, dass es den Weihnachtsmann gibt. Mein Gehirn ist mit ihnen total einverstanden – mein Herz aber nicht. Als feministische Sozialistin und sozialistische Feministin finde ich es unvertretbar, Kindern beizubringen, dass die unsichtbare, unbezahlte weibliche Arbeit der Vorweihnachtszeit auf einen imaginären Mann zurückzuführen ist. Aber mein Herz ist weich. Und inkonsequent. Und schwach – und ich bringe es nicht über das weiche, inkonsequente, schwache Herz, ihm die Wahrheit zu sagen.

Es gibt Eltern, die ihre Kinder nicht anlügen wollen, dass es den Weihnachtsmann gibt. Mein Gehirn ist mit ihnen total einverstanden – mein Herz aber nicht.

Meine Lösung? Ich lüge ihn halbherzig an und füge immer die Worte »vielleicht« und »oder so« hinzu. »Vielleicht bauen das die Elfen für ihn in seiner Nordpolfabrik? Oder so?« »Nein«, sagt er. »Die Elfen bauen die Holzspielzeuge, die Kinder eigentlich nicht haben wollen. Für die echten Spielzeuge muss er shoppen gehen. Sonst ist das illegal wegen Copyright-Gesetzen.« »Ach ja, vielleicht?«, sage ich. »Und ich glaube nicht, dass der Weihnachtsmann reich ist. Oder? Seine Stiefel sehen alt aus. Eigentlich sieht er aus wie die Männer, die in den Mülleimern nach Flaschen suchen.« Mein Herz bricht ein bisschen, aber ich sage nur: »Vielleicht sind die Stiefel total teuer gewesen und deswegen kann er die so lange tragen. Oder so.« »Wenn er reich wäre, würde er einen magischen Sportwagen benutzen und die Rentiere zuhause lassen. Oder einen Hubschrauber! Wenn er reich wäre, würde er keine Magie brauchen, um die Geschenke zu transportieren!« »Ja, vielleicht«, sage ich halbherzig. »Ich verstehe echt nicht, warum er das alles macht«, sagt er nachdenklich. »Wenn er so viel Geld übrig hat, warum gibt er nicht den Armen Decken? Oder Essen? Oder Häuser? Ich will den Turtles Truck, aber eigentlich sollte er das Geld an die Armen geben. Ich verstehe diesen Mann nicht, Mama.« 

Jetzt ist er da: Der Zeitpunkt, an dem ich ihm sage, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, es die Eltern sind, und dass wir so viel an die Armen spenden sollten, wie wir für Geschenke ausgeben. Und außerdem eine sozialistische Regierung wählen. Aber ich schaffe es nicht. »Ja komisch!«, sage ich. »Ich denke, wir sollten ihm einen neuen Brief schreiben und ihm sagen, wenn er zu arm ist für den Turtles Truck, kannst du mir den auch kaufen«, antwortet er.

Die Wahrheit ist: Den Weihnachtsmann gibt es nicht, und Weihnachten ist mir zu teuer. Was richtig nervt: Fast jeden Tag hat man irgendwelche Extraausgaben – eine Weihnachtssocke hier, ein Wichtelgeschenk da. Walnüsse für ein Weihnachtsbuffet, Geschenkpapier, Karten für die Verwandten. An den Truthahn will ich gar nicht denken! Eigentlich wäre ich dafür, dass Alleinerziehende im Dezember doppelt so viel Unterhalt bekommen wie sonst. Aber ich sage es nicht laut, sonst kommen die Politiker*innen noch auf die Idee, Unterhalt genau im Monat Dezember abzuschaffen.

»Vielleicht sollte ich an den Weihnachtsmann schreiben und ihn fragen, ob er nicht doch für die Armen Decken spenden kann? Aber denkst du, wenn ich das tue, bringt er mir dann keinen Turtles Truck?« »Nein, nein«, sage ich. »Der Weihnachtsmann ist großzügig.«
»Wenn er großzügig wäre, würde er selbst auf die Idee kommen, Decken zu spenden.« »Vielleicht«, sage ich. »Vielleicht hatte er ein Kind, das gestorben ist«, sagt er jetzt. »Deswegen beschenkt er uns. Oder ein Enkelkind. Vielleicht vermisst er ein totes Kind. Und deswegen macht er das?« Auf seinem Gesicht zeichnet sich eine Mischung aus Verzweiflung und Verwirrung ab. »Mach dir nicht so viele Sorgen um den Weihnachtsmann«, sage ich. Mein Sohn ist zu sensibel für den Weihnachtsmann, denke ich. Ich sage »Weihnachtsmann«, aber ich meine eigentlich: Kapitalismus. Ich fürchte, mein jüngster Sohn ist zu sensibel für das Leben im Kapitalismus. Ich fürchte, das sind wir alle. Vielleicht. 

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).

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