Wer tötete Malcolm X?
Zweifel an der Schuld zweier Verdächtiger gab es schon seit Jahrzehnten – erst eine Netflix-Doku aktivierte die Behörden
Von Kofi Shakur
Letztes Jahr veröffentlichte Netflix eine Doku-Reihe mit dem Titel Who killed Malcolm X?, deren Bekanntheit dazu führte, dass die Beteiligung zweier des Mordes an Malcolm X Verurteilter neu untersucht wurde.
Am 21. Februar 1965 sollte El-Hajj Malik El-Shabazz, vormals Malcolm X, eine Rede im Audubon Ballrom in New York halten. Kurz nachdem er die Bühne betrat, zog eine Auseinandersetzung im hinteren Teil des Saales, in der auch eine Rauchbombe gezündet wurde, die Aufmerksamkeit sowohl des Publikums als auch seiner Sicherheitsleute auf sich. Die entstandene Verwirrung nutzten drei weiter vorne postierte Schützen, um Shabazz zu erschießen. Einer der Schützen, Mujahid Abdul Halim, wurde von Shabazz’ Leibwächter angeschossen und konnte vom Publikum überwältigt werden. Die anderen entkamen. Ihre Identitäten sind bis heute umstritten, auch wenn die Behörden mehrere Tage nach dem Attentat Muhammad Abdul Aziz (Norman 3X Butler) und Khalil Islam (Thomas 15X Johnson) festnahmen und schließlich auch verurteilten. Die Verdächtigen waren bekannte Mitglieder der Nation of Islam (NoI). Aufgrund ihrer Feindschaft zu Malcolm Xs Organisation für Afroamerikanische Einheit (OAAU) hielten viele die Verwicklung der NoI in den Mord für plausibel. Doch aus dem näheren Umfeld der OAAU hielt man es genau deshalb für unwahrscheinlich, da man Aziz und Islam sofort erkannt und nicht unbeobachtet gelassen hätte.
Wie sich später herausstellte, waren bei gleichzeitig spärlicher Präsenz der Polizei um den Audubon Ballroom herum im Saal gleich mehrere Agenten der Sicherheitsbehörden anwesend, so unter anderem Gene Roberts, Mitglied von BOSSI (Büro für Spezialuntersuchungen), einer auf verdeckte Operationen spezialisierte Abteilung der New Yorker Polizei. Roberts hatte die von Shabazz nach seinem Bruch mit der NoI gegründete säkulare OAAU infiltriert und war sogar in sein Sicherheitsteam gelangt.
Das FBI wusste mehr
Die trotzkistische Zeitung Militant, die Malcolm X selbst bezog, berichtete über den Prozess gegen die drei Angeklagten, wobei sie die Berichterstattung der bürgerlichen Presse und die Stellungnahmen von Polizei und Staatsanwaltschaft vor und nach Shabazz’ Tod offen kritisierte. Es gab wenig Interesse daran, die Rolle des Staates und der Sicherheitsbehörden näher zu untersuchen, denen aus verschiedenen Gründen daran gelegen gewesen wäre, sich Malcolm X zu entledigen.
Dem Attentat im Audubon Ballroom war eine Woche zuvor ein Brandanschlag auf das Haus, in dem Malcolm X mit seiner Frau Betty Shabazz und ihren Kindern lebte, vorangegangen. Nur durch Glück war dabei niemand zu Schaden gekommen. Für Malcolm X war klar, dass, wer auch immer dafür verantwortlich war – er verdächtigte zunächst die Nation of Islam – dabei auch mutwillig den Tod seiner Kinder in Kauf genommen hätte. Zu diesem Zeitpunkt gab es einen Rechtsstreit zwischen Malcolm X und der Nation of Islam, mit der er ideologisch gebrochen hatte, und die daher eine verleumderische Kampagne gegen ihn führte. Malcolm X hatte, seit er im Gefängnis in den 1950er Jahren zum Anhänger der Nation of Islam geworden war, von und vor allem für die Organisation gelebt. Zum Zeitpunkt seines Ausschlusses verfügte er daher über keine bedeutenden finanziellen Mittel und das Haus, in dem er mit seiner Familie wohnte, gehörte offiziell der Nation. Diese verbreitete, er habe das Haus selbst in Brand gesteckt.
Klar war, dass es zu dieser Zeit mehrere Akteure gab, für die der Tod von Malcolm X gelegen gekommen wäre – sei es die Nation of Islam, die New Yorker Polizei, das FBI oder die CIA. Das lag vor allem an der politischen Entwicklung, die Malcolm X seit seinem Zerwürfnis mit der NoI genommen hatte. Noch stärker als zuvor wollte er einen politischen Kampf mit letztlich revolutionärer Perspektive in Verbindung mit der weltweiten afrikanischen Diaspora und den zuvor unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten führen. FBI-Chef J. Edgar Hoover, der in den 1920er Jahren den Schwarzen Nationalisten Marcus Garvey bekämpft hatte, warnte vor dem Erscheinen eines »Schwarzen Messias«. In einem internen Dokument hieß es, jemand wie Malcolm X (später auch MLK und Fred Hampton) könne ein solcher werden. Auch die Führungsriege der NoI hatte ein Problem mit Malcolm, weil er jederzeit ihre korrupten Strukturen hätte offenlegen können und ohnehin schon die Doppelmoral ihres Anführers Elijah Muhammad kritisierte und so seinen gottgleichen Status infragestellte.
Doku und Wende
Am 17. November dieses Jahres wurde bekannt, dass Ellen Biben, die zuständige Richterin des New York County Supreme Court, die vorherigen Urteile aufhob. Nach den durch die Dokumentation verbreiteten Erkenntnissen hatte die Bezirksstaatsanwaltschaft eine neue Untersuchung des Falles begonnen. In dessen Verlauf stellte sich heraus, dass unter anderem FBI-Dokumente, aber auch andere Beweise der Unschuld von Aziz und Islam in dem Prozess vorenthalten wurden.
Schließlich gelangte man also zu dem Schluss, dass zwei der drei Angeklagten zu Unrecht verurteilt worden waren, nachdem sie mehr als zwanzig Jahre lange Haftstrafen abgesessen hatten. Abdul Aziz und Khalil Islam wurden 1985 und 1987 aus der Haft entlassen. Islam verstarb 2009. Nun wurden beide des Mordes an Malcolm X nachträglich freigesprochen.
Viele, die etwas wussten, wurden nie befragt.
Schon 1977 und 1978 gab der zuerst festgenommene Mujahid Abdul Halim mit Hilfe eines prominenten Bürgerrechtsanwaltes zwei eidesstattliche Erklärungen ab, in denen er erstmals die Namen der anderen mutmaßlichen Täter nannte und außerdem schilderte, wie er für das Attentat angeworben wurde. Die mutmaßlichen Hintermänner blieben jedoch unerwähnt und es ist nicht klar, ob Halim selbst jemals wusste, von wem der Plan eigentlich ausging. Viele, die etwas zur Aufklärung hätten beitragen können, wurden nie vor Gericht befragt. Andere aus dem Umfeld von Malcolm starben unter fragwürdigen Umständen, nachdem sie zuvor angegeben hatten, Informationen über den wahren Hintergrund des Mordes und die Täter zu haben. Bis zur Veröffentlichung der Netflix-Dokumentation regte sich vonseiten der Behörden jedoch kein Interesse daran, den Fall noch einmal neu aufzurollen.
Dabei sind die Informationen, mit denen Netflix eine große Enthüllung konstruiert, gar nicht unbedingt neu. Der Autor Zak Kondo hatte bereits 1993 nach elf Jahren Recherche ein Buch mit dem Titel »Conspiracies: Unravelling the Assassination of Malcolm X« veröffentlicht, dessen Narrativ sich seinen Angaben zufolge Netflix bedient hat, allerdings ohne dies in entsprechendem Maße erkenntlich zu machen. Im Laufe seiner Recherche konnte er nähere Informationen zu den Personen finden, die Halim in seiner Erklärung genannt hatte.
Bei einer der Personen kam Kondo zu dem Schluss, dass es sich um William Bradley (Al-Mustafa Shabazz) handeln musste. Es sei laut einem pensionierten Polizeibeamten, den Kondo für sein Buch interviewte, ein offenes Geheimnis gewesen, dass der Mann, der mit einer Schrotflinte auf Malcolm X gefeuert hatte, mitten in der Gemeinde lebte. Die Dokumentation schildert vor allem die Beziehung zwischen der Nation of Islam und Malcolm X und folgt dem Protagonisten, dem Wissenschaftler und Aktivisten Abdur-Rahman Muhammad bei seinem Versuch, William Bradley zu konfrontieren. Muhammad kommt jedoch zu spät und kann nach Bradleys Tod nur noch mit seinen ehemaligen Bekannten sprechen, die beteuern, wie sehr dieser zur Gemeinschaft gehört habe und dass ihm für seine Taten verziehen worden sei.
Allerdings ist auch dieses Narrativ nicht unumstritten: Der Journalist Karl Evanzz, der ebenfalls lange zum Mord an Malcolm X geforscht hat, hält die Alibis von Aziz und Islam, wie auch das Geständnis und die Erklärung von Halim für ein Ablenkungsmanöver. Er beruft sich dabei auf Aufnahmen, die kurz nach dem Attentat einen Mann vor dem Audubon Ballroom zeigen, der Aziz zumindest sehr ähnlich sieht. Desweiteren gibt es eine Aussage aus dem Umfeld von Malcolm X, die ein Mitglied der NoI erkannt haben will. Evanzz’ Meinung nach erfolgte der rückwirkende Freispruch für Aziz und Islam vor allem um abzuwenden, dass die Sicherheitsbehörden weitere, bisher unter Verschluss gehaltene Akten freigeben müssen.