Mörderischer Hass
Dreißig Jahre nach dem Tod von Rafael Blumenstock kämpfen Initiativen für Aufklärung und gegen das Vergessen
Von Dennis Scott
Am 4. November 1990 wurde Rafael Blumenstock mitten auf dem Ulmer Münsterplatz ermordet. Der Mord war besonders grauenvoll und sorgte damit für viel Aufsehen. Todesdrohungen gehörten in dieser Zeit für alle, die ins Abseits gedrängten waren zum Alltag. Pietistisch, schwäbisch, brav – so kann man das Ulm der 1990er Jahre beschreiben. Für Abweichungen davon gab es wenig Raum. Zwar ist der Mordfall bis heute nicht gelöst, doch viel deutet darauf hin, dass Rafael Blumenstock von extrem Rechten ermordet wurde. Mordmotiv: Hass auf vermeintlich Schwule, Linke oder Juden und Jüdinnen. Die manifeste Ablehnung gegenüber als »anders« markierte Menschen war und ist in der Gesellschaft tief verankert, wie die Mitte-Studien immer wieder aufzeigen.
Rafael Blumenstock war 28 Jahre alt und sehr aktiv. Als Musikstudent gab er Klavierstunden, pflegte ältere Menschen und ging mit ihnen ins Café. Er war Pazifist und Aktivist, beteiligte sich an Besetzungen. So auch in der Nacht des Mordes. Rafael hatte lange Haare, schminkte sich gelegentlich und zog auch sogenannte Frauenkleidung an. Bei seinen vielen Kneipenbesuchen sprach er oft Männer an und fragte nach der Telefonnummer. Nach dem Mord wurde er deshalb in vielen Zeitungsartikeln als Homosexueller bezeichnet. Beliebt waren auch Wörter wie »Einzelgänger« oder »Sonderling«. Manche Berichte suggerierten sogar, dass er mit seinem Verhalten und Aussehen eine Mitschuld an seiner Ermordung zu tragen hätte.
Auch die besondere Brutalität des Mordes verweist auf den tiefen Hass der Täter. Rafael wurde von mindestens zwei Tätern mit 21 Messerstichen sowie mit Fußtritten ins Gesicht ermordet – ein Fall von »Übertötung«, also der Anwendung von größerer Gewalt, als zur Tötung nötig gewesen wäre. Zudem wurde seine Nase abgeschnitten. Nicht nur sollte das Leben ausgelöscht werden, sondern mit dem Abschneiden der Nase auch das Bestrafen einer Abweichung symbolisiert werden. Angewandt wurde diese Strafpraxis auch im Mittelalter bei »sexuellem Fehlverhalten«, so auch bei Homosexualität. Das Abschneiden der Nase kann als symbolhafter Kastrationsakt betrachtet werden. Dies legen auch die Verletzungen im Genitalbereich nahe.
Volkssport Homosexuellenjagd
Die Öffentlichkeit reagierte erschrocken, doch »solch ein Verbrechen war nur auf dem Nährboden in der Gesellschaft möglich, wie er sich gegenüber Minderheiten, seien es Ausländer oder Homosexuelle artikuliert«, wie ein Redner beim Gedenken am 4. November 1991 betonte. Zwar endete 1973 die Strafverfolgung von Homosexuellen offiziell, was die Polizei nicht daran hinderte weiterhin »rosa Listen« zu führen. 1980 wurde in Hamburg bekannt, dass die Polizei Herrentoiletten bespitzelte, um Homosexuelle ausfindig zu machen. Bis 1990 galt zudem bei der WHO Homosexualität als Krankheit, bis 2000 konnten Schwule bei der Bundeswehr nicht Vorgesetzte oder Ausbilder werden. Das Bild des wahlweise kranken, pädophilen oder kriminellen Homosexuellen war tief verankert, auch in Ulm um 1990.
Allein die Existenz einer Homosexuellenbewegung in Ulm, die sich selbst »Schwulm« (Schwule und Lesben in Ulm) nannte, konnte Entrüstungsstürme auslösen. Selbst einen Infotisch der Gruppe »Schwulm« wollte man nicht genehmigen. Schließlich könnten die Kinder die Homosexuellen dann sehen. Besonders zynisch: Am selben Tag durfte die NPD mit Fahnen und Lautsprecherwagen durch die Hirschstraße ziehen – für Kinder kein Problem.
Ein von »Schwulm« mitorganisierter Gottesdienst löste 1995 Empörung aus, und das queere Nachtlokal Aquarium musste 1998 der Gentrifizierung weichen: »Schon wegen der ganzen Art des Aquariums«, wie der damalige Geschäftsführer der städtischen Sanierungstreuhand fand.
Aufgrund dieser Stimmung gab es viele Übergriffe gegen Homosexuelle. Dadurch dass die Angegriffenen nicht zur Polizei gingen – zu groß war die Gefahr weiterer Demütigung – entwickelte sich Homosexuellenjagd zu einer Art Sport in Ulm. Im Jahr 1990 gab es eine Serie von Überfällen im Rosengarten und auf der Toilette an der Herdbrücke, beides bekannte Homosexuellentreffs. Allein im ersten Halbjahr 1992 gab es im Rosengarten sieben bekannt gewordene Überfälle, weswegen eine Notrufsäule gefordert wurde. Dazu waren Stadt und Polizei jedoch nicht bereit.
Auch gewalttätige Nazis waren in Ulm ein Problem – und sind es bis heute. Für 1990 und die folgenden Jahre gibt es eine Vielzahl von Berichten über bewaffnete Nazis, die Menschen oder Unterkünfte angriffen, darunter waren auch damals schon Fans des hiesigen Fußballvereins SSV Ulm. Die Anzahl rechter Akteure in Ulm und Umgebung war groß, und ihr Gewaltpotenzial trat regelmäßig zu Tage. Trotz allem ermittelte die Polizei zunächst auch Richtung Homosexuellenszene, was Erinnerungen an einen vorherigen Mordfall weckte. Doch es scheint so, dass die Polizei aus dem vorherigen Mordfall P. gelernt hatte. Der Homosexuelle wurde nahe Ulm an einem See ermordet. Die Polizei behandelte daraufhin vermeintlich Homosexuelle wie Verdächtige, was zu Protest führte.
In den Ermittlungen zum Mord an Rafael Blumenstock gab es neben den Stiefelabdrücken, die laut Polizei auf Nazis hinwiesen, noch weitere in diese Richtung gehende Indizien. »In der Nähe des Tatorts wurden drei Männer gesehen, die wie Skinheads aussahen«, sagte Ermittler Roland Marxner einige Tage nach dem Mord der Süddeutschen Zeitung. »Tritte ins Gesicht, das ist eine typische Verhaltensweise von Skinheads«, gab er damals an.
Die Ermittlungen in diese Richtung verliefen jedoch im Sande. Eine wirkliche Aufarbeitung der Umstände hat es nie gegeben. Die Täter sind bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Und die Erinnerung an diese Tat verblasst zunehmend.
Was bis heute bleibt, sind rechte Kontinuitäten und wieder ein gegen Minderheiten gerichtetes Klima. Außerdem eine abgenutzte und nur mit Mühe auffindbare Gedenkplatte für Rafael Blumenstock, die niemanden stört. „Da wir wissen wohin dieses Klima führt, kämpfen wir für bessere Zeiten und ein angemessenes Gedenken“, äußert sich dazu die Ulmer Gruppe Kollektiv.26. Hierzu sei ein neues, sichtbares Mahnmal nötig. Bereits 1992 hatten verschiedene Gruppen ein Mahnmal am Tatort errichtet: einen offenen Kubus. Am 4. November 2020, installierte das Kollektiv.26 ein baugleiches Mahnmal am Tatort und forderte gemeinsam mit sechs weiteren Gruppen die Einstufung des Mordes als Verdachtsfall rechter Gewalt und eine Veröffentlichung der Informationen damaliger Ermittlungen zu Nazistrukturen sowie eine Untersuchung zu personellen und strukturellen Kontinuitäten der Naziszene.