Auf der Suche nach Gerechtigkeit
Ibrahim Arslan und Katrin Kirstein über die Etablierung des selbstorganisierten Gedenkens nach den Möllner Brandanschlägen
Interview: Johannes Tesfai und Maike Zimmermann
Mit den rechten Morden Anfang der 1990er Jahre etablierte sich in Deutschland eine staatspolitische Form des Gedenkens, das die Betroffenen an den Rand drängte. Die Hinterbliebenen des Brandanschlags von Mölln haben sich dem aktiv widersetzt. Ibrahim Arslan, Überlebender, und Katrin Kirstein, Anwältin der Familie, über die lange Auseinandersetzung mit Stadt und Gesellschaft.
In Mölln passiert dieses Jahr einiges – es gibt eine Ausstellung, Workshops für Jugendliche, es gab Videoinstallationen usw. Hat sich in Bezug auf Gedenken in Mölln etwas verändert?
Ibrahim Arslan: Jetzt zum 30. Jahrestag gibt es natürlich extrem viele Anfragen von den Medien. Ich bin am Tag ca. zehn Stunden am Telefonieren. Dazu kommt wie jedes Jahr die psychische Belastung, wenn der Jahrestag kommt. Für uns ist das Gedenken permanent, es findet jeden Tag 24 Stunden, sieben Tage die Woche statt. Der 30. Jahrestag ist da für uns genauso besonders wie der 29. oder der erste. Gleichzeitig ist es wichtig, dass es nicht nur dieses Jahr Solidarität gibt von der Mehrheitsgesellschaft, sondern dass es immer Solidarität geben muss – und nicht nur an den runden Jahrestagen.
Katrin Kirstein: Es gibt einen neuen Bürgermeister in Mölln, ihm zur Seite steht jemand aus der Stadtverwaltung, der zuständig ist für das Gedenken. Er bemüht sich, alles richtig zu machen. Nach der jahrzehntelangen Arbeit der Familie und ihren starken Interventionen scheinen sie in der Stadtverwaltung verstanden zu haben, dass das Gedenken ohne die Betroffenen nicht möglich ist.
Ibrahim Arslan: Sie sind gezwungen, etwas zu lernen! Wer möchte es sich am 30. Jahrestag mit der Familie verspielen? Sie werden auch von verschiedenen Institutionen unter Druck gesetzt. Ich hatte ein Gespräch mit der für das Gedenken zuständigen Person von der Stadt Mölln. Er sagte, der Sekretär des Bundespräsidenten habe angerufen und gefragt, ob sie mit der Familie kommunizieren würden. Dass sich die Stadt Mölln da kein Nein erlauben kann, ist auf die Arbeit der Betroffenen zurückzuführen. Sie sind es, die die weiße Dominanz-Gedenkkultur stören und die Entwicklung in Richtung einer respektvollen Gedenkkultur forcieren.
Ibrahim Arslan und Katrin Kirstein
sind Teil des Freundeskreises im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992. Arslan ist Bildungsaktivist und Botschafter für Demokratie und Toleranz. Kirstein ist Anwältin der Familie Arslan.
Ibrahim, du hast letztes Jahr dem damaligen Bürgermeister von Mölln, Jan Wiegels, ein Geschenk übergeben. Was war deine Idee dabei?
Ibrahim Arslan: Der Ex-Bürgermeister hatte zwei Amtszeiten in Mölln hinter sich. Er hat tatsächlich in all den Jahren nicht ein bisschen eingelenkt oder aus der Auseinandersetzung gelernt. Er hat tatsächlich auf einer Gedenkveranstaltung gesagt, dass wir, die Familie Arslan, einsehen müssten, dass die Stadt Mölln auch betroffen sei. Ich wollte ihm noch mal klar machen, dass es bei dem, was wir hier machen, um viel mehr geht als um Mölln. Wir möchten die Stadt und ihre Bevölkerung nicht in den Dreck ziehen. Im Gegenteil, wir wollen eine gesamtgesellschaftliche, falsch laufende Gedenkkultur hinterfragen. Ich habe ihm ein Paket überreicht mit einem Buch, in dem es um Migration und die Gastarbeiter*innen-Generation in Deutschland geht. Ein weiteres Buch mit Namen von 300 Opfern rechter Gewalt. Und ein Taschentuch mit der Hoffnung, dass er eventuell Emotionen entwickelt, wenn er diese Bücher liest. Aber da Jan Wiegels so überhaupt gar keine Reaktion gezeigt hat, glaube ich nicht, dass sich bei ihm etwas verändert hat. Ich glaube, der Ex-Bürgermeister hat das einfach als ein Präsent entgegengenommen. Ich kann mir vorstellen, dass diese Bücher jetzt in seinem Schrank verstauben. Und ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Stadt Mölln mit ihren Institutionen betroffener fühlt als die Betroffenen selbst. Das ist beschämend.
Katrin Kirstein: Viele haben der Familie Arslan nicht verziehen, dass sie Opfer in Mölln geworden sind. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr der Ruf der Stadt unter dem Anschlag gelitten habe, über die betroffenen Familien aus der Ratzeburger Straße und die Familien Arslan und Yilmaz wurde nicht gesprochen.
Die Isolation der Betroffenen war komplett.
Vor zehn Jahren hast du, Ibrahim, gesagt, dass Opfer keine Statisten sein dürfen, sondern Hauptzeugen des Geschehens. Was hat dieser Satz bewirkt?
Ibrahim Arslan: Wenn es um Gedenkkultur geht, sollte jedem bewusst sein, dass die Betroffenen im Vordergrund stehen und eine zentrale Rolle spielen. Aus diesem Kontext heraus haben wir diesen Satz schon immer gelebt. Und so sieht man bundesweit, dass Betroffene überall intervenieren. Ein großes Beispiel dafür ist Hanau, dieser selbst erkämpfte Laden, der dort entstanden ist, schon ganz zu Anfang des Geschehens. Deswegen waren die Namen der Opfer aus Hanau am ersten Tag in der Zeitung. Das hängt auch mit solchen Sätzen zusammen. Wir sehen, dass Betroffene sich immer wieder anschließen. Manche von ihnen haben seit 20 oder 30 Jahren nichts gesagt.
Katrin Kirstein: Es ist wirklich so, dass Betroffene von Anschlägen aus den 1980er und frühen 1990er Jahren dazu kommen und erstmals anfangen zu sprechen. In den meisten Fällen sind sie nicht gehört worden oder hatten vorher nicht die Möglichkeit, weil sie allein gelassen wurden und sogar eher Angst haben mussten, wenn sie sich offenbarten als Opfer von rassistischer oder antisemitischer Gewalt. Denn in dem Moment konnten sie noch einmal zur Zielscheibe werden, weil es keinen gesellschaftlichen Schutz gab. Die Isolation der Betroffenen war komplett. Da nehme ich die Linke nicht aus. Wir waren genauso wenig am Start oder haben auch nur mal nachgefragt: Können wir irgendwas tun? Da sind wir alle etwas schuldig geblieben. Aber Betroffene setzen sich dafür ein, dass allen Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt, dass die Gesellschaft lernt und dass es um andere Formen von Gerechtigkeit geht. Gerechtigkeit, die nur von Betroffenen selbst gestaltet werden kann.
Wie lief das Gedenken die letzten Jahre? Was hat sich verbessert – vor allem durch Druck von euch?
Ibrahim Arslan: Alles was bis jetzt schon von der institutionellen Ebene für Betroffene kommt, wurde erkämpft. Zum Beispiel wurden die Opfer-Entschädigungsgelder neu berechnet. Das bedeutet nicht, dass der Staat solidarisch ist. Die ganze Bürokratie, die wir hatten, als unser Haus angezündet wurde und wir dadurch obdachlos wurden, zeigt deutlich, wie sehr wir alleine gelassen wurden mit unserem Leid. Das Ganze ist von der Stadt Mölln gut protokolliert. Aber ich will das gar nicht auf die Stadt Mölln reduzieren, es war in den 1990ern gang und gäbe, Betroffene alleine zu lassen. Die Betroffenen aus Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Solingen berichten das Gleiche.
Die vielen Menschen in den verschiedenen Orten haben sich in den letzten Jahren immer stärker vernetzt. Was bedeutet für euch Vernetzung?
Ibrahim Arslan: Als ich mit dieser Arbeit angefangen habe, ist mir ein beschämendes Bild aufgefallen. Und zwar, dass die weiße Antifa in der Vergangenheit nicht mit der migrantischen Antifa zusammengearbeitet hat. Es gab wohl viele unterschiedliche Ansätze oder Ansichten. Das erste, was ich gedacht habe, war: Wie kann ich es schaffen, meine türkischen oder meine migrantischen Freund*innen in der Antifa-Szene mit den weißen Linken zusammenzubringen, mit denen ich auch gerne zusammenarbeite. Denn es gibt eine Gemeinsamkeit: Wir alle möchten Betroffene unterstützen, unabhängig davon, welche politischen Ansichten wir haben. Und ich finde schon, dass durch unsere Aktionen eine Art Frühling der Initiativen begonnen hat. Als das in Hanau passiert ist, hat mich die Stadt Hanau angerufen und gesagt: »Wie können wir denn solidarisch und respektvoll mit den Betroffenen in Hanau eine Gedenkveranstaltung organisieren?« Ich habe gesagt: »Wieso fragen Sie da nicht die Betroffenen aus Hanau?«
Ihr sprecht oft von Solidarität und solidarischen Menschen. Was versteht ihr unter Solidarität?
Katrin Kirstein: Es gibt ein Kinderbuch, das heißt »Der gute Stern des Janusz K.«. Darin geht es um einen jüdischen Jungen der im KZ Buchenwald interniert war. Und da fragt einer ein Kind: »Was ist für dich Solidarität?« Das Kind sagt: »Es ist eine Art Klebstoff.« Ich glaube tatsächlich, Solidarität ist der Wille, sich zu verbinden, etwas mehr zu werden und sich nicht loszulassen, auch wenn es anstrengend wird.
Ibrahim Arslan: Warum sind meine Eltern nicht ausgewandert? Das habe ich mich immer gefragt, und es fragen mich auch Leute: »Warum lebt ihr noch in Deutschland?« Zuerst: Deutschland ist unsere Heimat. Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen. Für mich wäre alles andere inklusive der Türkei Ausland. Mein Vater sagte, dass die Solidarität der Menschen ihn hier in Deutschland gehalten hätte. Er hat immer mit der Hoffnung gelebt, dass es vernünftige, solidarische Deutsche gibt, die nicht rassistisch denken. Ich verbinde Solidarität mit meiner eigenen Gerechtigkeit. Ich werde Gerechtigkeit nicht in einem deutschen Gericht suchen, sondern immer bei den solidarischen Menschen.
Gedenken 2022
Möllner Rede im Exil: Es sprechen Katrin Kirstein und Angehörige der Familien Arslan und Yilmaz. 14 Uhr, 20. November, Kampnagel, Jarrestraße 20, Hamburg.
Solidarisches Gedenken in Mölln, 23. November, 15 bis 19 Uhr, Mühlenstraße 9, Mölln.