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|ak 706 | Alltag

Mit ME kämpfen, gegen ME kämpfen

Die Aktivistin Sandra Wirth über die neuroimmunologische Krankheit ME/CFS, die schwere Folgen hat, aber kaum erforscht wird

Interview: Laura Meschede

Foto eines Rollstuhls auf einer Wiese
Die Krankheit ME führt viele Betroffene in die Einsamkeit. Auch Ausflüge in die Natur sind für Sandra nur selten möglich. Foto: Madeleine Dierfeld

Hunderttausende Menschen in Deutschland leiden an ME/CFS, die meisten von ihnen sind Frauen. Mehr als die Hälfte der von ME Betroffenen ist arbeitsunfähig, knapp ein Viertel auf den Rollstuhl angewiesen. Die Aktivistin Sandra Wirth über einen politischen Kampf, der in der Linken oft übersehen wird.

Du leidest seit mehr als einem Jahrzehnt an ME. Kannst du ein bisschen schildern, wie dein Leben mit der Krankheit aussieht?

Sandra Wirth: Wenn ich aufwache, bin ich noch sehr schwach. Ich brauche dann Hilfe, um mich vom Bauch auf den Rücken zu drehen – und Augentropfen, weil ich sonst meine verklebten Augen nicht aufbekomme. Nach etwa einer Stunde habe ich genug Kraft, um im Liegen zu frühstücken. Am späten Nachmittag schaffe ich es meistens, mich eine Weile auf den Balkon zu legen, der direkt am Schlafzimmer liegt. Spätabends geht es mir deutlich besser. Zum Glück kann ich anders als andere fast immer duschen. Nachts kann ich ein bisschen aktiv sein kann, mich um meine Pflanzen kümmern oder Musik machen. Zum Einschlafen nehme ich aktuell fünf verschiedene Schlafmedikamente, trotzdem wird es oft 3 oder 4 Uhr. Manchmal erlaube ich mir etwas Besonderes, zum Beispiel einen längeren Besuch oder etwas Aktivismus vom Bett aus. Oder sogar einen Ausflug nach draußen. Mein Mann fährt mich dann im Auto liegend in einen Wald und dort lege ich mich auf ein Lager. Das geht aber nur selten und mit starken Medikamenten.

ME wird ja auch ME/CFS genannt, wobei CFS »Chronisches-Fatigue-Syndrom« bedeutet. Trotzdem nimmst du Schlafmittel?

Nicht trotzdem, sondern deswegen! ME ist bei vielen sozusagen die pathologische Abwesenheit von Müdigkeit. Auto-Antikörper besetzen Rezeptoren des autonomen Nervensystems. Dadurch kann der Körper nicht mehr in den Ruhemodus gelangen. Der Körper erholt sich nicht und nimmt daher durch jede Belastung Schaden. Das kann zu einem Crash führen, von dem wir uns erst viel später oder gar nicht erholen. Ich muss jeden Tag aufpassen, dass ich meine Grenze nicht überschreite. Und diese Grenze schwankt ständig. Letztes Jahr ging es mir mal zwei Wochen lang richtig schlecht, weil ich einen Ausflug in den Wald unternommen hatte und das schon zu viel war. Der Begriff »Fatigue« ist verharmlosend und irreführend. ME hat nichts mit Müdigkeit zu tun.

Sandra Wirth

ist 49 Jahre alt, hat seit 15 Jahren ME und seit 2,5 Jahren ihre Diagnose. Seither ist sie neben dem Aktivismus für Ernährungssouveränität und Klimagerechtigkeit auch zum Thema ME aktiv – so weit es ihr möglich ist. Eigentlich heißt Wirth anders, aus Sorge vor Problemen mit der Krankenkasse hat sie darum gebeten, ihren Namen zu ändern.

Du bist politische Aktivistin – und kämpfst dabei auch gegen ME. Inwiefern ist der Kampf gegen ME politisch?

Es ist ein Menschenrechtsskandal, wie mit uns umgegangen wird. Von Stigmatisierung, psychischer Gewalt bis hin zu schädigender Fehlbehandlung. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann es kaum glauben. Aber die Medizingeschichte zeigt, dass marginalisierte Geschlechter und von Rassismus betroffene Menschen diese Erfahrung schon lange machen. Medizin ist hochpolitisch. Das wird oft übersehen, auch in der Linken. Bestimmt auch, weil das Wissen fehlt: Viele kennen ME nicht, wissen nicht, wie schwer und wie hweit verbreitet diese Krankheit ist – und was für massive Menschenrechtsverletzungen da passieren.

Inwiefern?

Das geht bei der Diagnose los. Weil vor allem Frauen von der Krankheit betroffen sind, wird einfach immer wieder behauptet, es sei eine psychische Krankheit. Ich selber habe zwölf Jahre lang keine Diagnose bekommen; eine Klinik hat meinen bereits vereinbarten Termin abgesagt und mir stattdessen einen Depressions-Screening-Bogen zugesendet. Zum Glück hat mein Psychotherapeut interveniert. Er hat mir bescheinigt, dass ich psychisch gesund bin. Nur dadurch konnte ich schließlich meine Diagnose bekommen. Eine Diagnose bedeutet aber nicht, dass mensch auch behandelt wird…

Dass wir behandelt werden, ist nicht vorgesehen.

Warum?

Sehr viele Betroffene haben gar keine*n Ärzt*in. Die allerwenigsten Ärzt*innen kennen ME, obwohl es seit 55 Jahren bei der WHO als neurologische Krankheit eingestuft ist! Es kommt im Medizinstudium nicht vor. Gerade unter älteren Neurologen ist weit verbreitet, dass ME psychisch sei, und dass sie den diesbezüglichen wissenschaftlichen dazu Fortschritt komplett ausblenden. Außerdem wird die Behandlung nicht wirklich vergütet. ME ist eine komplexe Multisystemerkrankung und macht natürlich mehr Arbeit als eine Erkältung. Das wird bei der Berechnung nicht einbezogen. Und: Kein einziges Medikament ist für uns zugelassen.

Kein einziges?

Kein einziges! Dabei gibt es Therapien. Die können zwar nur in Ausnahmefällen heilen, aber sie können die Symptome lindern und uns einen Teil unseres Lebens zurückgeben. Aber sie werden uns verweigert. Die Krankenkassen lehnen die Übernahme ab. Dass wir behandelt werden, ist nicht vorgesehen.

Kürzlich hast du gegen die Krankenkasse geklagt – und gewonnen. Worum ging es da?

Dabei ging es um Immunglobuline (IgG), die bei manchen Autoimmunkrankheiten gegeben werden. Mittlerweile ist es Konsens in Fachkreisen, dass Autoimmunität ein Faktor bei ME ist. Es gibt auch schon einige erfolgreiche Studien zu IgG. Wir Betroffene lesen ständig Studien – es macht ja keine Ärzt*in für uns.

Nur weil ich viele Privilegien hatte, konnte ich vor Gericht ziehen. Deshalb habe ich alle nötigen Unterlagen anonymisiert veröffentlicht. Das ist mein Beitrag zur Unterstützung von weniger Privilegierten. Der Kampf geht also weiter.

Dass die Krankenkasse die Behandlung ablehnen würde, war dabei von Anfang an klar. Sie lehnt alles ab. Was sich aber wirklich wie ein Tritt in den Bauch angefühlt hat: Statt der Immunglobuline hat sie mir Training zur Behandlung empfohlen. Dabei ist Training das Schädlichste, was man bei ME machen kann, weil das Problem an ME ja gerade ist, dass Belastung den Zustand verschlechtert. Ich habe dann gegen den abgelehnten Antrag Widerspruch eingelegt, und nachdem der nicht bearbeitet wurde, habe ich geklagt.

Und?

Das Gericht hat mir Recht gegeben. Der Paragraph, auf den ich mich gestützt habe, besagt, dass eine Therapie erstattet werden muss, wenn eine Krankheit regelmäßig tödlich oder gleichwertig verläuft. ME ist nur manchmal tödlich. Aber »gleichwertig« bedeutet, dass in naher Zukunft höchstwahrscheinlich wichtige Körperfunktionen verloren gehen werden. Und ich habe bereits die Fähigkeiten zum Sitzen, zum Stehen und zum Gehen verloren. Das Gericht hat beschlossen, dass ich sechs Monate lang IgG bekommen muss. Die Krankenkasse hat dann zwar zwölf Monate bewilligt, den Folgeantrag aber schon wieder abgelehnt. Nur weil ich viele absolut relevante Privilegien hatte, konnte ich vor Gericht ziehen. Deshalb habe ich alle nötigen Unterlagen anonymisiert veröffentlicht. Das ist mein Beitrag zur Unterstützung von weniger Privilegierten. Der Kampf geht also weiter.

ME ist ja auch ein möglicher Ausdruck von Long Covid. Meinst du, die gestiegene Aufmerksamkeit durch Corona wird dazu führen, dass es auch mehr Forschung geben wird und die Krankheit weniger ignoriert werden kann?

Ich halte den Begriff Long Covid soziologisch für sehr relevant, medizinisch aber eher für schädlich. Long Covid bezeichnet ganz verschiedene Krankheiten, von denen ME eine der folgenreichsten ist. Dadurch, dass oft nur von Long Covid gesprochen wird, wird ME ein weiteres Mal unsichtbar gemacht. Long Covid ist eine bequeme Ausrede, weil es suggeriert, die Krankheit sei neu. In Studien zu Long Covid werden meist keine richtigen Subgruppen gebildet; oft wird vorhandenes Wissen übersehen. Es hat auch ganz konkrete Folgen: Gerade ist eine Off-Label-Liste mit einige symptomlindernden Medikamenten in Vorbereitung. Diese Medikamente wurden von Menschen mit ME auf eigene Kosten und eigenes Risiko auf Wirksamkeit getestet. Nun sollen sie eingesetzt werden – aber nur für Long-Covid-Erkrankte. Das bedeutet, dass alle Menschen, die schon vor Corona an ME erkrankt waren, bewusst ausgeschlossen werden. Frau Stark-Watzinger (Bundesministerin für Bildung und Forschung) blockiert nach wie vor Forschungsgelder. Richtig viel tut sich also nicht.

Du warst schon vor deiner Erkrankung Aktivistin und bist auch jetzt noch Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung. Was hat die Krankheit mit deinem Aktivismus gemacht?

Solange ich konnte, bin ich noch physisch auf Aktionen gegangen. Das letzte waren die G7-Proteste. Da hatte ein Medikament ein bisschen geholfen und eines meiner Kinder hat mich mit dem Rollstuhl begleitet. Für mich war das super wertvoll, weil ich die Proteste vom Bett aus mit organisiert hatte. Aber inzwischen findet Aktivismus für mich nur noch vom Bett aus statt. Wenn es mir gut geht, nehme ich online an Treffen teil, lese Nachrichten, poste auf Social Media – und träume mich in Waldbesetzungen.

Über die AbL, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, bin ich Teil der globalen Bewegung La Via Campesina. Das ist das Einzige, was mir von meinem früheren aktiven Leben blieb. Es ist alles sehr klein geworden. Meine Kämpfe drehen sich jetzt meistens um ME: Gerade bauen wir eine Gruppe auf, die sich in Baden-Württemberg engagiert. Ich bin sehr froh, dass ich mir den Aktivismus bewahren konnte.

Gibt es etwas, das deine Genoss*innen tun könnten, um dir die Beteiligung zu vereinfachen?

Absolute Voraussetzung ist Infektionsschutz! Alle Orte ohne Infektionsschutz sind für uns zu gefährlich. Ich kenne einige Aktivistinnen, die wegen ME verschwunden sind. Wir dürfen doch nicht noch mehr Kämpferinnen verlieren! Warum ist Solidarität so schwierig, wenn sie praktisch werden muss?

Ich finde es toll, dass es zum Beispiel beim System-Change-Camp Rollstühle mit Assistenz und auch Infektionsbewusstsein gibt. Aber es sind nicht nur die Barrieren im öffentlichen Raum …

Sondern?

Viele von uns sind so krank, dass sie auch Rollstühle gar nicht benutzen können. Wir müssen ruhig und am besten ohne Kommunikation in unseren Betten liegen, in dunklen und geräuschlosen Räumen. Wir werden ausgeschlossen, weil uns Behandlung verweigert wird! Wir brauchen also Menschen, die sich gegen diese Barrieren einsetzen, dass wir Therapien bekommen. Denn dann können wir auch wieder teilnehmen.

Sprecht mit euren Ärzt*innen und nehmt bei eurem nächsten Termin Aufklärungsmaterial zu ME/CFS mit. Positioniert euch, und organisiert Proteste in eurer Stadt. Nahmt an den #LiegendDemos teil. Und schaut auch in eurem direkten Umfeld genau hin: Manche Betroffene, wissen vielleicht noch gar nicht, dass sie ME haben. Oder brauchen Entlastung im Alltag. Es ist es wichtig, nachzufragen, wenn Leute plötzlich aus Bezügen verschwinden. Es erkranken schließlich jeden Tag weitere Menschen an ME.

Laura Meschede

ist Journalistin, lebt in München und ist in der Klimabewegung aktiv.