Deutsche Antisemitismusdebatten
Micha Brumliks Buch »Postkolonialer Antisemitismus?« ist ein wichtiger Beitrag zu aktuellen Kontroversen
Von Jens Renner
Gibt es einen neuen »Historikerstreit«? Nicht nur Micha Brumlik sieht Ähnlichkeiten mit der geschichtspolitischen Kontroverse der Jahre 1986/87, auch wenn die Themen der aktuellen deutschen Antisemitismusdebatten andere sind. Heute, schreibt Brumlik, gehe es um die Frage, »ob es zulässig ist, Israel und den Zionismus – zumal die mehr als 50 Jahre währende Besatzungsherrschaft im Westjordanland – als ›kolonialistisch‹ zu bezeichnen, mehr noch: die Besatzungsherrschaft zur ›Apartheid‹ und damit für rassistisch zu erklären.«
Andere Diskutant*innen halten solche Zuschreibungen für antisemitisch – womit sich aus ihrer Sicht eine argumentative Auseinandersetzung erübrigt. Brumlik dagegen hält den Meinungsstreit für notwendig. Sein Buch ist zunächst die »Bestandsaufnahme einer Diskussion«: um die (pro-)palästinensische BDS-Bewegung, das Jüdische Museum Berlin und den Theoretiker des Postkolonialismus, Achille Mbembe. Als der Bundestag im Mai 2019 BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) für antisemitisch erklärte, sei auch eine Art »Kontaktschuld« eingeführt worden – ein schwerwiegender Eingriff nicht zuletzt in die akademische Streitkultur: »In einem kulturellen Milieu mit hoher Kommunikationsdichte ist nämlich so gut wie niemand vor diesem Vorwurf gefeit.« Auch Peter Schäfer, Präsident des Jüdischen Museums Berlin, war Ziel dieses Vorwurfs. Nach heftigen Attacken, an denen Israels damaliger Premier Benjamin Netanjahu maßgeblich beteiligt war, trat Schäfer im Juni 2019 zurück. Erst durch den Skandal wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Sklavenhandel, Rassismus und Genozid
Das gilt ähnlich für Mbembe, der ursprünglich den Eröffnungsbeitrag der (dann Corona-bedingt abgesagten) Ruhr-Triennale 2020 halten sollte, aber wieder ausgeladen wurde – wegen angeblich antisemitischer Äußerungen. Brumlik kritisiert diese Entscheidung und auch die Begründungsversuche des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. Zugleich verschweigt er nicht kritikwürdige Positionen Mbembes, der das israelische Besatzungsregime für schlimmer – wörtlich: »viel tödlicher« – hält als die südafrikanische Apartheid. Er zitiert aber auch Mbembes Verteidigung des Existenzrechts Israels, die in den Kommentaren seiner Kritiker*innen durchweg übergangen werde.
In einem kulturellen Milieu mit hoher Kommunikationsdichte ist so gut wie niemand vor dem Vorwurf der Kontaktschuld gefeit.
Während Brumlik die drei deutschen Konfliktthemen relativ knapp abhandelt, beschäftigt er sich ausführlich mit den tiefergehenden Fragen, die während der medialen Erregungszustände kaum eine Rolle spielten: »Der transatlantische Sklavenhandel, das Entstehen des modernen Rassismus und die Genealogie der Massenvernichtung« – so lautet die Überschrift des fünften Kapitels. Am Beispiel von Kant, Voltaire und anderen Aufklärern zeigt Brumlik die lange Tradition rassistischen Denkens, das der Entstehung des modernen Antisemitismus voraus- und in diesen einging. So sah Kant die Menschheit »in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen«, und für Voltaire waren Schwarze und Juden gleichermaßen eine »minderwertige Menschenart« – potenziell tödliche Sätze, die spätere Völkermorde legitimierten. In der Genozidforschung habe sich die »Vorbildfunktion des deutschen Kolonialkrieges in Südwestafrika für die rassistische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten mehr und mehr bestätigt«, schreibt Brumlik. Eine Gleichsetzung folgt daraus nicht – zu Recht zitiert er Yehuda Bauer, der die Shoah als »präzedenzloses Menschheitsverbrechen« bezeichnet. Zugleich aber, so Brumlik, stehe »die Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus auf der Tagesordnung …«
Die postkoloniale Kritik am Zionismus
Mbembe und anderen Autor*innen, die diese Frage diskutieren, gehe es »in ihrem bisherigen philosophischen Schaffen keineswegs in erster Linie um judenfeindliche Ziele (…), sondern um eine philosophisch-historische Genealogie des Rassismus«. Womit allerdings das Thema »Zionismus und postkoloniale Kritik« (Kapitel 6) nicht erledigt ist. Eine Gleichsetzung von Israel mit dem südafrikanischen Apartheidstaat lehnt Brumlik ab. Während Israels arabische Staatsbürger*innen in einigen Bereichen diskriminiert würden, sei die Lage der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten »eine völlig andere: sie ähnelt in mancher Hinsicht der südafrikanischen Apartheid«.
Wenn das so ist, dann stellt sich das Problem des israelisch-palästinensischen Konflikts mit besonderer Dringlichkeit. Zumal die scheinbar alternativlose Zwei-Staaten-Lösung in weite Ferne gerückt, wenn nicht überhaupt unmöglich geworden ist. An ihre Stelle, schreibt Brumlik in einem Postskriptum, müsse eine »föderative Ein-Staaten-Lösung« treten. In welchem Zeitraum sie realisierbar wäre, lässt er offen. Ungeklärt bleibt auch die Frage künftigen »multidirektionalen Erinnerns«, die er im Epilog erörtert. Noch einmal hebt er die Singularität, die Präzedenzlosigkeit der Shoah hervor und nennt wesentliche Merkmale, die sie von anderen Genoziden unterscheiden. »Gleichwohl«, fährt er fort, »wird der Singularität dieses Verbrechens nichts genommen, wenn an die … Singularität der Verbrechen des Kolonialismus, sei es im Kongo, sei es im transatlantischen Sklavenhandel erinnert wird.«
Micha Brumliks Buch ist weit mehr als die versprochene Bestandsaufnahme deutscher Antisemitismusdebatten. Es enthält eine Fülle an Material, historische Exkurse inclusive. Seine gut begründeten Thesen bieten Anregungen für weitergehende Diskussion – eine nicht immer einfache, aber lohnende Lektüre.
Micha Brumlik: Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Bestandsaufnahme einer Diskussion. VSA-Verlag, Hamburg 2021, 158 Seiten, 14,80 EUR.