Gegen das herrschende Menschenbild
In Luise Meiers neuem Roman ist ein Pilz der Startpunkt für eine befreite Gesellschaft
Interview: Alexandra Ivanova
Was wäre, wenn in Kürze ein Pilz die globale Stromversorgung zum Stillstand brächte? Dazu hat die Autorin Luise Meier mit »Hyphen« laut Selbstbeschreibung einen »semi-utopischen-speculative-near-future-social-fiction«-Roman veröffentlicht. Im Interview spricht sie über ihren Plot, Menschenbilder und Theorie-Praxis-Vermittlung in der Literatur.
Luise, in »Hyphen« wird eine zwar postapokalyptische, aber gleichsam ökosozialistische, unentfremdete, klassenlose Gesellschaft entworfen. Wie kamst du als Schriftstellerin auf den Stoff, und warum wählst du für deinen eigenen Roman das Label semi-utopisch?
Luise Meier: Semi-utopisch wähle ich, weil es doch einige Unterschiede gibt zur klassischen utopischen Literatur. Aus einer Beschäftigung mit feministischer Theorie heraus war mir zum Beispiel wichtig, nicht den radikalen Bruch zu erzählen. Es ist nicht die Isolation von allem, was wir kennen, auf einer Insel oder auf einem anderen Planeten, sondern eigentlich ist ganz vieles, was wir kennen, noch da und wirkt noch weiter in der materiellen Welt, auch in den Menschen als Narben und Traumata.
Und die Idee kam mir, als ich bei einem Schreibprojekt der Gruppe Working Class Daughters über das Thema Klasse gemerkt hatte, dass ich schon länger so ein Unbehagen habe, dass das Schreiben über Klasse gerade stark reduziert wird auf Klassismus und quasi autofiktionale Schreibformen, und dadurch an die Vergangenheit gekettet und von der Zukunft abgeschnitten bleibt. Für mich verweist Klasse aber zugleich auf das Klassenlose, auf die Zukunft und den Kampf darum. Deshalb hatte ich selbst eine große Sehnsucht nach einer anderen Erzählung.
Wie würdest du die Widersprüche charakterisieren, die dabei entstehen, wenn man sich eine gesellschaftliche Transformation erdenkt und darüber schreibt, aber zugleich der Frage nach einem eher schwer beweglichen Menschenbild nachgehen muss?
Der ganze Roman ist eigentlich ein einziger Protest gegen dieses herrschende Menschenbild. Mein Menschenbild geht nicht von der Unveränderlichkeit einer menschlichen Natur aus, sondern davon, dass wir das Ergebnis einer historischen Entwicklung unseres Zusammenlebens sind. Der Mensch wird bestimmt durch die Verhältnisse, in denen er lebt, aber der Mensch bestimmt auch diese Verhältnisse, und dieser Kreis ist sehr schwer zu durchbrechen. Will ich eine Gesellschaft beschreiben, die radikal anders ist als die jetzige, muss ich irgendwie aus diesem Zirkel raus springen. Und da habe ich nach Möglichkeiten gesucht. Die sind einerseits fiktional, das ist an vielen Stellen dieser besagte Pilz, an vielen Stellen aber gerade nicht. Denn häufig sind Erfahrungen in Arbeitskämpfen oder im Zwischenmenschlichen der Grund, warum einzelne meiner Figuren ihr Denken verändern. Der Pilz macht in dem Roman nicht nur etwas mit den Individuen, die sich selbst während und nach den Pilztrips anders erleben. Er macht auch etwas ganz Bestimmtes mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, indem er durch dieses Lahmlegen der Stromnetze zugleich massenmediale Vermittlung lahmlegt, also Formen der politischen Repräsentation, die wir jetzt kennen, und natürlich den ganzen Warenverkehr und damit den Kapitalismus. Das wiederum lässt Raum für Verhältnisse, in denen es plötzlich nicht mehr um Fragen des Wachstums und des Profits geht, sondern um die Frage einer Befriedigung der ganz konkreten Bedürfnisse. Dabei weist die politische These, die in dem Roman steckt, über individuell-moralische Überlegungen hinaus. Vielmehr gehe ich davon aus, dass sich in einer anders organisierten Gesellschaft alle Fragen anders stellen lassen – auch die nach einer Moral.
Luise Meier
wurde 1985 in Ostberlin geboren, arbeitet als freie Autorin, Theatermacherin und Servicekraft. Essays in diversen Zeitschriften. Bei Matthes & Seitz Berlin erschien 2018 »MRX Maschine« und zuletzt, im August 2024, der Roman »Hyphen«. Foto: Caroline Böttcher
Pilze liegen zwar gerade allgemein im Trend, aber trotzdem: Warum hast du im Roman ausgerechnet einen Pilz die treibende Kraft werden lassen?
Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit dissidenten kommunistischen Ideen wie denen Alexander Bogdanows beschäftigt. Da gibt es andere Materialismuskonzeptionen als die, die der Marxismus-Leninismus hervorgebracht hat. Andere Theorien darüber, was Materie ist, wenn wir sie auch im Sinne der Entwicklung der Physik weiterdenken, und was das für den Materialismus bedeutet, den Marx diskutiert. Das hat mich enorm interessiert und knüpft ferner an die feministische Auseinandersetzung an, etwa bei Donna Haraway oder Karen Barad, darüber, wie starr oder veränderlich Materie eigentlich ist zwischen den Menschen und in den materiellen Verhältnissen. Durch die enorme Geschwindigkeit ihrer Entwicklung und ihre Durchlässigkeit stellen Pilze unseren Begriff von Materie radikal in Frage. Auch wenn, oder, weil es kein Theoriebuch ist, verbindet der Pilz in »Hyphen« Gedanken zu Veränderbarkeit und Beziehungsformen. Und als Fiktion macht es einfach Spaß, auszuprobieren, was passiert, wenn ein Pilz sich als Nahrungsquelle unser Stromnetz sucht und damit den Kapitalismus zerstört, aber zugleich als eigentümlicher Organismus ein ganz neues Netzwerk bildet und mit den Menschen in Dialog tritt,
Für mich verweist Klasse aber zugleich auf das Klassenlose.
Welche Rolle spielen für dich als Autorin aktivistische und Graswurzel-Traditionen, die im Roman ebenfalls präsent sind?
Aus meinen aktivistischen Kontexten kenne ich ganz viele Beispiele davon, wie ein besseres oder anderes Leben jetzt schon möglich ist. Vieles scheitert natürlich, ganz oft sind es die äußeren Verhältnisse, die die Widersprüche derart stark werden lassen, dass es die Gruppen zerreißt. Eine Gruppe kann nicht kompensieren, womit das ganze System uns belegt. Und dennoch werden an allen Ecken und Enden die ganze Zeit Praktiken und Strategien erprobt, wird versucht, etwas anderes als den Kapitalismus und das System zentralisiert staatlicher Versorgung zu imaginieren. Diese Beispiele haben mich immer stark fasziniert.
Deine Hauptfigur Maja Bojan reist als theorieaffine, belesene Protokollantin für eine Art Welt-Enzyklopädie an verschiedene Orte und zeichnet dort Gespräche mit anderen Figuren auf. Wie hast du deine Figuren aufgebaut?
Das Verhältnis von linker Theorie zur Praxis und auch linker Geschichte zur Gegenwart über Figuren zu verhandeln, war mir sehr wichtig. Auch deswegen spielt der Roman fast komplett in Ostdeutschland, wo sich diese neuen, fiktionalen Transformationserfahrungen an den alten aus der Zeit des Mauerfalls reiben. Es tauchen wiederholt Figuren auf, die sich auf die Geschichte beziehen, wenn sie versuchen, die neue Welt zu verstehen. Mit Maja gibt es eine Figur, die diese verschiedenen Sprachen spricht und zwischen Gegenwart und Vergangenheit, aber auch zwischen dem Erlebten und den Theorien übersetzt, was wieder zu den historischen Erfahrungen der Figuren führt.
In den Roman hineinmontiert sind Gedichte oder Zeitungsschnipsel, zum Teil in anderen Sprachen. In welchem Verhältnis stehen für dich Form und Inhalt?
Theoretische Fragen, die sich bestenfalls aus Widersprüchen in der Praxis ergeben, sind der Motor für mich, überhaupt zu schreiben. »Hyphen« ist mein erster Roman – aber ich mache auch Theater und ich schreibe Essays. Dabei geht es mir gleichzeitig um Inhalte und ihre Vermittlung, also das Medium, das sich die Inhalte suchen oder in dem sie sich experimentell weiterentwickeln können. Außerdem wollte ich eine Welt behaupten, in der Lyrik plötzlich zu einem bedeutenden Medium der Kommunikation wird, während diese verdinglichte Kommunikation, die wir heute haben, in den Hintergrund tritt. Wie würden Menschen anders kommunizieren, aber ebenso anders hören und anders lesen und anders miteinander in Beziehung treten – auch über weitere Entfernungen hinweg –, wenn es nicht mehr diese Notwendigkeit gäbe, Warenförmigkeit, Effizienz, Aufmerksamkeit und Likes zu generieren?
Luise Meier: Hypen. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2024. 303 Seiten, 25 EUR.