Leben mit der Leugnung
Die Armenier_innen vor und nach dem Genozid
Von Ismail Küpeli
Der Genozid an den Armenier_innen im Osmanischen Reich jährt sich 2015 zum 100. Mal. Auch dieser Jahrestag wird davon bestimmt sein, dass der Genozid verschwiegen, relativiert, kleingeredet und geleugnet wird. Dies liegt weniger daran, dass die Faktenlage uneindeutig oder der Vernichtungswille der Täter nicht nachzuweisen wäre. Die wissenschaftliche Forschung ist zwar nicht abgeschlossen, aber an der Existenz des Genozids bestehen keine ernstzunehmenden Zweifel. Verschweigen und Leugnen des Genozids ist vielmehr explizite staatliche Politik der Türkei, dem De-facto-Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs.
Einer der verlässlichen Komplizen dieser Leugnungspolitik ist die deutsche Regierung, die bis heute den Begriff Genozid meidet und an der zentralen Gedenkveranstaltung am 24. April in Armenien nicht teilnehmen wird. Diese Komplizenschaft ist wenig überraschend, weil das Deutsche Reich mit in das Verbrechen des damaligen Verbündeten verwickelt war. Insofern ist das Vorgehen der deutschen Regierung nicht nur den guten Beziehungen zur Türkei geschuldet, sondern dient auch dazu, die deutsche Beteiligung an einem weiteren Genozid unter den Teppich zu kehren.
Die bisherige Leugnungspraxis prägt auch die Debatten, in denen Wissenschaftler_innen, Politiker_innen und Aktivist_innen versuchen, den Genozid, seine Strukturen und Prozesse zu analysieren. Nahezu jede Publikation, die für eine breitere Leserschaft angelegt ist, benötigt etliche Seiten, um zuerst gegen die Leugnung anzureden und darzulegen, warum es sich tatsächlich um einen Genozid handelt. Vielfach kommt es zu Selbstzensur und vorweggenommenen Relativierungen durch die Autor_innen, um sich dem zu erwartenden Shitstorm der Genozidleugner_innen zu entziehen. Dies geht bis hin zu Buchtiteln wie »Völkermord oder Umsiedlung?« bei explizit linken Verlagen – ein Vorgang, der etwa bei einer Publikation über den Holocaust undenkbar wäre.
Insofern ist es sehr erfreulich, dass der Sammelband »Wege ohne Heimkehr« der Hamburger Historikerin Corry Guttstadt genau hierauf verzichtet. Der Genozid und sein Kontext werden vom Historiker Hans-Lukas Kieser in einem kurzen Beitrag skizziert. Die Massaker an Armenier_innen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts tauchen ebenso auf wie die Entwicklung der jungtürkischen Bewegung. Dabei werden auch die Kontinuitäten der jungtürkischen Gewaltpolitik sichtbar, wenn etwa die Vertreibung und Ermordung von »Griech_innen« an der Ägaisküste vor und während des 1. Weltkrieges und der darauffolgende Genozid an den Armenier_innen zusammengedacht werden.
Nichtaufarbeitung des Völkermords
Der überwiegende Teil der Beiträge thematisiert in sehr unterschiedlicher Weise das Leben der Armenier_innen vor und nach dem Genozid. Dabei wird deutlich, dass die Lebenswelten der Armenier_innen im Osmanischen Reich sehr unterschiedlich sowie sozial und regional ausdifferenziert waren. Die pauschale Zuordnung der Armenier_innen zum gebildeten Kleinbürgertum, durch die der Genozid gerne vulgärökonomisch erklärt wird, erfährt hier Widerspruch. In gewisser Weise exemplarisch ist das groteske Märchen vom Schriftsteller Edgar Hilsenrath, worin das Schweigen der Weltöffentlichkeit, die Leugnung seitens der Türkei und die Wortlosigkeit der Überlebenden des Genozids behandelt werden.
Abschließend beschäftigen sich Corry Guttstadt und Ragıp Zarakolu mit der Nichtaufarbeitung des Völkermords und der türkischen Leugnungspolitik, die hier glücklicherweise nicht als bloßes Produkt von übertriebenem Nationalstolz deklariert werden. Stattdessen werden die politischen und ökonomischen Gründe für die türkische Politik dargestellt und die Übergänge vom jungtürkischen Täterregime zur heutigen Türkei skizziert.
Sowohl die »internationale Gemeinschaft« als auch die linke Opposition in der Türkei haben sich recht lange nicht gegen die staatliche Leugnungspolitik der Türkei gestellt. Türkische Linke haben sich erst nach dem Militärputsch 1980 mit dem Kemalismus, der Staatsideologie der Türkei, stärker kritisch auseinandergesetzt und hier langsam eine andere Position zur Aufarbeitung des Genozids an den Armenier_innen gefunden.
Insgesamt zeigt sich gerade in den autobiografischen Beiträgen, wie stark das Leben der Überlebenden und deren Nachfahren durch den Genozid geprägt wurden. Es scheint unmöglich zu sein, mit und über Armenier_innen zu sprechen, ohne die Vernichtung einer ganzen Gesellschaft angemessen zu berücksichtigen. Die Publikation ist ein wichtiger Beitrag, um das Schweigen in Deutschland aufzubrechen und hoffentlich zu einem würdigen Umgang mit einem der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts zu kommen. Der Verzicht auf eine vermeintlich »neutrale« Darstellung, in der Genozidleugner_innen den Diskurs prägen können, ist ein besonderer Vorzug des Sammelbands.
Corry Guttstadt (Hg.): Wege ohne Heimkehr. Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen. Assoziation A, Hamburg 2014, 204 Seiten, 19,80 EUR