Der lange Schatten von 1913
Die kolonialpolitischen Diskurse nach der großen Dürre im Sahel beeinflussen Maßnahmen zur Klimaanpassung bis heute
Von Alassane Dicko und Lars Springfeld
Für die Menschen in der Sahelzone ist das unheilvolle Jahr 1913 bis heute in Erinnerung geblieben. Bei den Bambara in Mali heißt die große Dürre von 1913-1914 Dia-Ba. Auch in der Songhai-Sprache bezieht man sich auf die Folgen der Dürre, dort heißt das Jahr Gande Béri. In der Peul-Sprache wird das Ereignis als Tasbane bezeichnet, was »Unheil bringend« bedeutet. Die Fulani im westlichen Sahel benutzen die Ausdrücke Rafo-Manga, die »große Hungersnot«, oder Kitanga, »großer Verlust«.
Die psychologische Wirkung dieses Jahres prägte auch das Bewusstsein der französischen Kolonialverwaltung, die die ersten großen Hungersnöte registrierte. Der Kommandant des Kreises Bandiagara im heutigen Mali stellt in einem Verwaltungsbericht fest, dass »die Hungersnot von 1913-1914 die Bevölkerung des Kreises um etwa ein Drittel reduziert hat; was den Viehbestand betrifft, ist es durchaus möglich, dass er um die Hälfte zurückgegangen ist«. Dabei sorgten sich die Agraringenieure und Kolonialverwalter in erster Linie um die aufgrund der hohen Zahl an Toten wegbrechenden Steuereinnahmen.
In der Vergangenheit waren die Regionen am südlichen Rand der Sahara, teils sogar mitten in der Wüste, gut bewässert, denn sie erhielten jedes Jahr große Wassermengen, wenn die Flüsse Senegal, Niger, Benue und Schari sie überfluteten und düngten. Im Laufe der Jahre sind diese Gebiete ausgetrocknet. In der Folge dieses Ereignisses bestimmten die Kolonialverwaltung und Expert*innenlobbies einen Diskurs, der bis heute bestimmte umwelt- und entwicklungspolitische Maßnahmen legitimiert.
Klimadaten und koloniale Entwicklungspolitik
In den frühen Debatten unter den Experten erwähnten nur wenige französische Autoren die Dürre von 1913 und die darauf folgende Katastrophe. Die Diskussion nahm erst nach dem Ersten Weltkrieg an Fahrt auf, als ein Teil der politischen Klasse Frankreichs die Ansicht vertrat, dass die Kolonien zu den wichtigsten Rohstofflieferanten für die französische Industrie werden sollten.
In der Logik eines »allgemeinen Programms für die Entwicklung der französischen Kolonien« schlagen viele Projekte der 1920er Jahre groß angelegte Maßnahmen des Wassermanagements vor, um das Wasser des Senegals nutzbar zu machen und so eine landwirtschaftliche Entwicklung der Region zu gewährleisten. Ein typisches Beispiel für diese Fortschrittserzählung ist das »Office du Niger«, das Anfang der 1930er Jahre vom französischen Ingenieur Emile Bélime realisiert wurde. Um sein Bewässerungsprojekt im inneren Nigerdelta zu rechtfertigen, stützte sich Bélime stark auf die Berichte der sudanesischen Kreiskommandanten über die Hungersnot von 1913-1914 und stellte fest, dass diese Art von Hungersnot regelmäßiger auftreten wird. Dem könne jedoch durch eine Nutzbarmachung des außerordentlichen Bewässerungspotenzials des Nigers entgegengewirkt werden. Eine groß angelegte, wasserwirtschaftliche Entwicklung der Region sei demnach dringend erforderlich.
All dies zeigt eine bewusste Instrumentalisierung von Klimadaten, um Entwicklungsziele zu erreichen, die von Zweideutigkeiten umgeben sind und in erster Linie politischen Interessen folgen. Dabei nutzten die Kolonialpolitiker und ihre Verbündeten in den Wissenschaften das Argument des »Kampfes gegen die Austrocknung«, um eine stärkere Beteiligung der Metropole an der Erforschung der natürlichen Gegebenheiten der Kolonien zu rechtfertigen und eine Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung und Entwicklung der Kolonien voranzutreiben.
In den Fachdiskursen der 1930er Jahre wurde die fortschreitende Austrocknung der Sahelregion in Westafrika wiederum als eine Folge der Entwaldung gesehen. Es hieß, der einzige Weg zur Lösung des lebenswichtigen Wasserproblems läge in der Wiederaufforstung. Das Phänomen der Austrocknung wurde nun, anders als in den bisherigen Argumenten der »Entwicklungsplaner«, vermehrt auf menschliche Aktivitäten und insbesondere auf traditionelle lokale Produktionssysteme zurückgeführt.
Ein radikaler Wandel vollzog sich auch in der politischen Praxis, wo nun zum »Schutz von Wasser und Wald« Maßnahmen ergriffen wurden, die zum Ausschluss der lokalen Bevölkerung führten. Denn parallel zu den großen wasser- und landwirtschaftlichen Erschließungen in den Tälern des Senegal und Niger begann man, die bisher vor Ort geltenden Gewohnheitsrechte durch eine umfangreiche Klassifizierung von Wäldern als »Waldreservate« zu ersetzen, deren Nutzung der indigenen Bevölkerung verboten war. Diese nun vom soziokulturellen Erbe abgekoppelten kolonialen Schutzgebiete, wurden als unverzichtbare Maßnahme zur Wiederherstellung der Wälder gerechtfertigt, die angeblich durch Buschbrände und den Wanderfeldbau der dort lebenden Menschen degradiert worden waren. Diese Regelungen aus den 1930er Jahren bildeten den Grundstein folgender Forstgesetze, die sogar bis in die Zeit nach der Unabhängigkeit bestand haben sollten.
Der Kolonialstaat zwang Bäuer*innen Regeln auf, rekrutierte Arbeitskräfte und siedelte um.
Es war jedoch in erster Linie die intensive Abholzung durch die Europäer*innen und nur in geringerem Maße die der einheimischen Bevölkerung, die das Überschwemmungsregime im Senegal und im südlichen Mali veränderte. Denn die umfangreichen Entwicklungsprogramme dienten der Einführung eines marktorientierten Produktionssystems und gingen einher mit einer weiteren Kolonisierung der indigenen Bevölkerung. Die Regeln wurden den Bäuerinnen und Bauern vom Kolonialstaat aufgezwungen, wobei Arbeitskräfte rekrutiert und in einigen Fällen Teile der Bevölkerung zwangsumgesiedelt wurden. Der postulierte Kausalzusammenhang zwischen Entwaldung, Dürre und Austrocknung bestärkte diese Politik der kolonialen Agrarökonomen und Ingenieure, die ihre Programme stets nach eigenem Ermessen, oft als Strafe oder umgekehrt in einer paternalistischen Haltung gegenüber der Bevölkerung durchführten, die als unfähig zur Erhaltung ihrer Umwelt angesehen wurde.
Warum sind diese Themen heute noch relevant?
Seit den 1970er Jahren sind die Begriffe Dürre, Bodendegradation und Wüstenbildung zentraler Bestandteil des Diskurses von Umwelt- und Entwicklungsexpert*innen in den Ländern der Sahelzone. Sie werden nicht nur in wissenschaftlichen Schriften und technischen Berichten verwendet, sondern sind auch zu einem Hebel der Umweltpolitik und zu einem Katalysator für Strategien der ländlichen Entwicklung geworden. In einer Zeit, in der der Klimawandel und die Notwendigkeit, sich an ihn anzupassen, zu einem zentralen Thema in wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Debatten geworden ist, ist es wichtig, diese Begriffe aus einer historischen Perspektive zu betrachten.
Die fortschreitende Austrocknung der Sahelregion in Westafrika ist ein Thema, das sich durch die koloniale Ideologie des 20. Jahrhunderts zieht. Koloniale Entwicklungspolitik sowie das, was man als Umweltpolitik im damaligen Französisch-Westafrika bezeichnen könnte, beruhten weitestgehend auf Konzepten, die in einer Gemeinschaft von Experten und Wissenschaftlern entwickelt und von einer Gruppe von Ingenieuren, Technikern und Verwaltern umgesetzt wurden, die allesamt von imperialen Ideen geprägt waren. Dabei hatte die Art, wie dieses Thema von Anfang an unter dem Gesichtspunkt der »Entwicklung« der Kolonien betrachtet wurde, einen starken Einfluss auf verschiedene Politiken der Ressourcenausbeutung.
Heute werden die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Auswirkungen von Dürren oder zur Anpassung an den Klimawandel von Akteur*innen vor Ort bemerkenswert gut angenommen. Sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus – lokale Akteur*innen haben die Argumente nationaler und internationaler Expert*innen in ihre Diskurse integriert. Bei diesen Diskursen handelt es sich, wie bei vielen anderen Aspekten des »Umweltschutzes« oder der »nachhaltigen Entwicklung«, um echte Hebel, die zumindest teilweise den sozialen und politischen Wandel in Sahelregion in Westafrika steuern.
Die hier beschriebenen Entwicklungen können dabei auch als eine Form der epistemischen Gewalt verstanden werden. Denn lokale Wissensbestände über die Nutzung von Wasser, Wald und Weideflächen wurden – und werden es oft bis heute – nicht als legitimes Wissen anerkannt oder gar vollends ausgelöscht. Dabei handelt es sich um einen Prozess mit drei zentralen Eigenschaften; die vermeintliche Objektivität des wissenschaftlichen Diskurses, die Logik des Fachwissens (aus der sich eine Prognose über die Zukunft ergibt) und schließlich die Empfehlung, die zu einem Handlungsrezept wird. Die Legitimität des ersten Schrittes rechtfertigt die des Letzteren.
Klimagerechtigkeit darf sich demnach nicht allein auf eine gerechtere Form der Verteilung der Kosten des Klimawandels beschränken, sondern besteht auch in der Überwindung einer eurozentrischen, kolonialen Form des Expert*innenwissens, in der Wasser, Land und Ressourcen aus einer rein sozialplanerischen/ökonomischen Perspektive betrachtet werden. Allerdings ist es gerade im hier diskutierten Bereich der Wasserpolitik schwierig zu beurteilen, welchen Einfluss, zum Beispiel im Bereich der politischen Entscheidungsfindung, lokale Wissensbestände tatsächlich haben (können). Denn letztendlich gilt: Es gibt keine einfache Lösung in Form eines Patentrezepts. Stattdessen ist die Frage nach Klimaanpassung Teil des politischen Aushandlungsprozesses um eine selbstbestimmte, gerechte Entwicklung und Gegenstand lokaler sowie transnationaler politischer Kämpfe.