Kleine Leute auf dem Thron des Lebens
Katja Oskamps Roman »Marzahn, mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin« wurde als Miniserie verfilmt
Von Nelli Tügel

Es gibt ja manchmal so Atmosphärisches, das lässt sich nur schwer in Worte fassen. Und wenn es dann doch jemand tut, gehen diese Worte sofort rein und werden zu Gefühl, denn: If you know, you know. »Wenn man in Marzahn aus der Tram aussteigt, kann man einen Temperaturunterschied registrieren. Das Wetter in Marzahn, einst die größte Plattenbausiedlung der DDR, kommt mir intensiver vor als in der Innenstand. Die Jahreszeiten duften stärker.« Mit diesen Worten beginnt die Miniserie »Marzahn Mon Amour«. Und wer aus Ostberlin kommt, also nicht Prenzlauer Berg oder Friedrichshain oder Treptow, sondern aus dem geografischen Osten der Stadt, aus dem in den 1970er und 1980er Jahren an die Hauptstadt der DDR angedockten Neubaugebiet, der*die fühlt diese Worte sofort, zumindest geht es mir so. Meteorologisch ist die Behauptung, es herrsche dort ein anderes Klima, mit Sicherheit unhaltbar, soziokulturell aber ist sie Fakt: Marzahn-Hellersdorf ist zwar ein Berliner Bezirk, aber es ist eben auch eine eigene Welt. Eine eigene Welt voller eigensinniger Menschen.
Einige davon nehmen in »Marzahn Mon Amour« auf dem Thron Platz. Der Thron ist der Behandlungsstuhl in der »Beauty Oase«, dem Kosmetik-Nails-Fußpflege-Salon von Jennifer Chan (Yvonne Yung Hee Bormann). Dort hinauf, auf den Thron also, klettern die größtenteils älteren Kund*innen, oft benötigen sie dabei Hilfe, werden dann hochgefahren und lassen sich von Kathi (perfekt besetzt: Jördis Triebel), einer gescheiterten Schriftstellerin, die auf Fußpflege umgeschult hat und zu Beginn der Serie in Jennys Salon anheuert, die Füße machen. Dabei kommen sie ins Reden, manche auch eher ins Grummeln, allet schön breit dahin berlinert natürlich. Manche sind verbittert, andere lebensfroh, alle auf ihre sehr ostdeutsche Art renitente Improvisationskünstler*innen. Eine Art, die die Serie gestochen scharf einfängt – erstaunlicherweise, ohne dabei ins Stereotype zu kippen. Auch wenn ein paar Kerle tolle Auftritte hinlegen (garantiert jede*r im Osten kennt einen wie Herrn Schimke) – den Bechdel-Test würde »Marzahn Mon Amour« locker bestehen, selbst einen Bechdel-Test, der nur Frauen über 40 berücksichtigt. Sogar die Tatsache, dass Ostdeutschsein nicht zwangsläufig Weißsein bedeutet und Marzahn auch Heimat einer großen vietdeutschen Community ist, transportiert die Serie so selbstverständlich, wie es eigentlich sein sollte, oft aber nicht ist.
Während der Fußpflege kommen die meist älteren Kund*innen ins Reden, allet schön breit dahin berlinert natürlich. Manche sind verbittert, andere lebensfroh, alle auf ihre sehr ostdeutsche Art renitent.
(Fast) alle, die in der »Beauty Oase« vorbeikommen, sind kleine Leute, weil Marzahn nun mal ein Bezirk der kleinen Leute ist. Das ist auch der Grund dafür, dass Jenny darauf besteht, die Dienstleistungen im Salon weiterhin zu kleinen Preisen anzubieten, obgleich ihr das Wasser bis zum Hals steht. Darüber verkrachen sich Jenny und Lulu (Deborah Kaufmann), die dritte Kittelträgerin im Bunde, zeitweilig. Und zuhause hat Kathi, deren ebenfalls als Schriftsteller gescheiterter Jammerlappen von einem Mann sie erst kürzlich hat sitzen lassen, Stress mit der Teenagertochter. Das sind aber eher Nebenschauplätze. Im Mittelpunkt stehen die Gäste des Salons und ihre Leben. Mit wenigen Worten wird dabei mitunter viel erzählt: »Wat hamsen eigentlich nach der Wende beruflich jemacht?« »Sollte ne Umschulung machen – Altenpfleger. Könnse sich das vorstellen?« »Ne. Aber mit der Nagelstruktur hamse Glück. Die is noch richtig fest.«
Die an den Füßen verrichtete Arbeit – Waschen, Abtrocknen, Nägel schneiden, Hornhaut entfernen, Fußmassage – wird immer wieder gezeigt, wenn auch eher en passent, während diese Tätigkeiten in dem Roman, auf dem die Serie beruht, eine noch explizitere Rolle spielen.
Vielleicht auch deshalb, weil Romane über Arbeit lange Zeit nicht sehr en vogue waren, war das Buch »Marzahn, mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin« der Schriftstellerin und Fußpflegerin Katja Oskamp im Jahr 2019 ein Überraschungserfolg. Ganz sicher aber wegen seiner rauen Wärme und Melancholie. Regisseurin Clara Zoe My-Linh von Arnim, die gerade erst mit der grandiosen Serie »Die Zweiflers« über eine jüdische Familie in Frankfurt am Main ihr Können unter Beweis gestellt hat, ist es gelungen, genau diese Stimmung in sechs Folgen zu übersetzen, an denen einzig ihre Kürze zu bemängeln ist. Nach zwei Stunden ist leider alles schon wieder vorbei. Dabei hätten sich aus dem Stoff des Buches noch mindestens weitere sechs Folgen schnitzen lassen; mit Geschichten über Menschen, die, wie Kathi es am Ende aus dem Off sagt, »vor 40 Jahren nach Marzahn gezogen sind und jetzt mit Rollator, Sauerstoffgerät und Mindestrente tapfer ihr Leben zu Ende bringen. Die manchmal tagelang mit niemandem reden. Die uns, wenn sie ins Studio kommen, ihre hungrigen Herzen ausschütten, jede Berührung dankbar aufsaugen und glücklich sind an diesem Ort, an dem sie nicht wie die Vollidioten der Nation behandelt werden«.
Alle sechs Folgen von »Marzahn mon Amour« sind in der ARD-Mediathek abrufbar.