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Kein Hilfs-Westernhagen

Rio Reiser ist eine deutsche Popikone, die alten politischen Songs stören dabei aber manchmal

Von Johannes Tesfai

Fünf Personen sitzen auf einer Mauer voller Plakate, einige sind mit Tüchern vermummt, dahinter ein altes Haus
Ton Steine Scherben wollten Musik für die politische Bewegung machen: Hausbesetzer 1981 in Berlin-Kreuzberg. Foto: Tom Ordelman / Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0

Der Geniekult ist in der Musikindustrie weit verbreitet. Einen den dieses Label, insbesondere nach seinem Tod, immer begleitet hat, ist Rio Reiser. Der Sänger von Ton Steine Scherben hätte am 9. Januar dieses Jahres seinen 75. Geburtstag gefeiert, wäre er nicht 1996 bereits verstorben. Der rbb hat zu diesem Anlass den Dokumentarfilm »Rio in Berlin« über ihn produziert.

Der Film glänzt vor allem durch gut montiertes Archivmaterial, zu Beginn mit grobkörnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus der Gründungszeit der Band Anfang der 1970er Jahre. Zum Ende sind es knallig-bunte Fernsehaufnahmen aus den 1990er Jahren, als Rio Reiser Teil des kulturellen Inventars der Bundesrepublik wurde. Nach dem Ende der Band Mitte der 1980er Jahre versuchte sich Reiser als Solokünstler und hatte mit »König von Deutschland« beachtlichen Erfolg. Das Lied versöhnte alternative Kultur und Bierzelt. Liebeslieder wie »Junimond« ließen Reiser hingegen im Feuilleton zum feinsinnigen deutschen Poeten aufsteigen.

Heimlicher Moderator des Films ist der deutsche Pop-Barde Herbert Grönemeyer. Immer wieder zeigt Regisseur Lutz Pehnert Ausschnitte aus einer Laudatio Grönemeyers auf Reiser. Dort lässt sich Grönemeyer zu der Aussage hinreißen, der Scherben-Sänger habe für einen »anarchischen Patriotismus« gestanden. Schon in Philip Meinholds Podcast »Musik ist eine Waffe« von 2024 fand man den Vorwurf, die politische Szene in Berlin habe die Band in den ersten Jahren künstlerisch eingeengt. In der Tat verließen die Scherben 1976 die Stadt in Richtung norddeutsche Provinz. Dass das politische Umfeld der Band aber ein Hemmschuh des musikalischen Genies von Reiser war, passt wohl eher zu dem Bedürfnis, deren politisches Erbe als Jugendsünde abzutun.


Die Musiker hatten den Lehrlingen aufs Maul geschaut.

Ton Steine Scherben war aus einem Theaterprojekt mit Lehrlingen entstanden. Die Songtexte des ersten Albums »Warum geht es mir so dreckig« sind deshalb nicht nur Produkte der spitzen Feder Reisers, sondern entstanden aus den Gesprächen mit den Lehrlingen. Die Lieder erzählen vom Ärger mit dem Meister und dem eintönigen Arbeitsalltag. Die Musiker hatten den Lehrlingen aufs Maul geschaut. Die Revolte von 1968 war eben nicht nur eine seminarmarxistische Diskussion unter Bürgerkids; mit der Lehrlingsbewegung gab es mancherorts auch eine junge Bewegung, die sich in proletarischer Selbstermächtigung versuchte. Für diese Menschen wollten die Scherben Musik machen.

Dieses politische Erbe zeigt der Film zwar anschaulich, jedoch wird der vermeintlich außerordentliche Künstler Reiser dem immer wieder entgegengestellt. Obwohl der Film auch Reisers kritischen Blick auf DDR, BRD und DDR-Anschluss zeigt, greift der Regisseur daneben, wenn er ein Scherben-Lied mit der berühmten Zeile »dieses Land ist es nicht« über die Bilder des Mauerfalls legt. Reiser wird damit zum Hilfs-Westernhagen degradiert, der mit »Freiheit« einen der ersten wiedervereinigten Hits landete.

Diese Erzählung passt zu den vielen Ex-Linken, die die Zeit des Aufbruchs in den 1960er und 1970er Jahren als wahnsinnigen Irrweg überschreiben wollen. Es verkennt auch die Rolle der politischen Bewegungen für die Popularität von Ton Steine Scherben. Ohne ein linksradikales Milieu, Demonstrationen und Hausbesetzungen hätten der Band nicht nur die Themen ihrer Texte, die Wut in ihrer Musik, sondern auch ihr Publikum gefehlt. Kurz vor ihrer Auflösung Mitte der 1980er Jahre erlebten die Scherben ein kleines Comeback vor dem Hintergrund einer neuen Welle von Hausbesetzungen und Demonstrationen. Nicht das musikalische Genie haben die Scherben existieren lassen, sondern radikale Bewegungen.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.


Rio in Berlin. Deutschland 2024. 43 Minuten. Regie: Lutz Pehnert.

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