Der Theoretiker als Politiker
Aufgeblättert: »Die Gegenwart als Werden erfassen« von Karl Lauschke
Von Sebastian Klauke
Der Politikwissenschaftler und Soziologe Karl Lauschke bietet neben einem detail- und zitatenreichen Streifzug durch die Aufsätze in Georg Lukacs‘ Buch »Geschichte und Klassenbewußtsein« eine ebenso kleinteilige und kenntnisreiche Darstellung der politischen Diskussion zur politisch-gesellschaftlichen Situation in Ungarn und deren Analyse in der kommunistischen Bewegung in der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Lukacs war stark in diese und in die heftigen Auseinandersetzungen in und um die Kommunistische Partei Ungarns involviert. Es ist in erster Linie der politische Journalist und Parteigenosse Lukacs, der hier Geltung entfaltet, und dies ist der entscheidende Punkt des Buches: Der in Berlin als Privatdozent arbeitende Lauschke will deutlich machen, dass Lukacs mit seinem Werk nicht jenseits und abseits der Politik agiert, nicht nur Philosoph ist, sondern einen immanent realpolitischen Beitrag zur Politik liefert. Fragen der Aktualität oder Richtigkeit der entfalteten Gedanken spielen keine Rolle. Lukacs gilt als Mitbegründer des Westlichen Marxismus, worauf der Autor nicht explizit eingeht. Jedoch liest sich sein Buch als Absage an diese klassische Interpretation. Alles in allem eine aufschlussreiche Lektüre, die Lukacs als kommunistischen Journalisten stark macht. Ein Personenverzeichnis fehlt leider, was eine Recherche erschwert. Die Rezeptionsgeschichte »Geschichte und Klassenbewußtsein« wird um neue Facetten bereichert.
Karl Lauschke: »Die Gegenwart als Werden erfassen«. Inhalt, politischer Kontext und Rezeption von Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein. Westfälisches Dampfboot, Münster 2023. 528 Seiten, 38 EUR.