Die Bockwurstparty ist vorbei
Die Ausstellung »Rache – Geschichte und Fantasie« im Jüdischen Museum Frankfurt befasst sich mit dem Topos Rache als Motiv von Selbstermächtigung
Von Ayesha Khan
Schon auf dem Weg in das Jüdische Museum prangen die großen pinkroten Lettern »RACHE« auf schwarzem Hintergrund an jeder zweiten Litfaßsäule oder auf den Plakaten in der U-Bahn-Station. Von den Buchstaben tropft Blut – eine verheißungsvolle Einladung in die Ausstellung, die dem Motiv Rache in der jüdischen Kulturgeschichte nachspürt.
Die Sonderführung, mit der das Kurator*innenteam zusammen mit Publizist und Lyriker Max Czollek und der Museumsdirektorin Mirjam Wenzel die Besucher*innen leitet, findet spät am Abend statt. Draußen ist es bereits dunkel, das Museum gespenstisch still. Es geht in das Untergeschoss des Museums.
Bereits im ersten Raum erschlägt einen förmlich ein in der Dunkelheit schwebender, aber grell ausgeleuchteter Baseballschläger – plötzlich Lichtblitze. Was hier inszeniert wird, ist ein Originalrequisit aus Quentin Tarantinos Film »Inglourious Basterds«. Auf den Schläger sind die Namen ermordeter jüdischer Verwandter der Figur Danny Donowitz geschrieben. Im Film übt der Donowitz als Bärenjude damit Rache an einem SS-Offizier. Die popkulturelle Referenz aus dem Film ist der perfekte Einstieg für das, was noch folgen soll.
Bilder von Erzählungen aus dem Alten Testament wie die über Judith, die den assyrischen Feldherren Holofernes köpft, weil er raubend und mordend durch ihre Stadt zog, schmücken als Motiv zahlreiche Leinwände. Im Hauptraum der Ausstellung wartet nicht nur ein Gemälde der mutigen Judith aus der Renaissance auf die Besucher*innen, sondern auch das Werk des US-amerikanischen Künstlers und Obama-Porträtisten Kehinde Wiley, in dem die Schwarze Judith, den Kopf einer weißen und blonden Frau hält. Kein Zufall, dass dieses Bild hier hängt – Rache und Widerstand sind ein verbindendes Element verschiedener Kämpfe marginalisierter und unterdrückter Gruppen.
Auch andere Rachefiguren aus der jüdischen Mythologie wie Lilith und der Golem spielen bis heute eine große Rolle in gesellschaftlichen Debatten über Ungleichbehandlungen. Nicht zuletzt gilt Lilith als feministisches Icon einer ganzen Generation und spielt immer wieder eine zentrale Rolle in Filmen, aber auch in Comics und Graphic Novels. Als erste Frau Adams, wie Adam selbst aus Lehm geschafften und nicht wie die devote Eva aus einer Rippe Adams, widersetzt sie sich Adams patriarchalen Vorstellungen, flieht aus dem Paradies und kehrt als Dämonin zurück. In der Rezeption taucht sie mal als Vampirin, mal als Vorreiterin für die Emanzipationsbewegung, weil sie sich Adam nicht unterwerfen wollte, auf – Lilith symbolisiert die Ambivalenz der Seele.
Ambivalenz ist es, die sich wie ein roter Faden durch die Schau zieht. Immer wieder deutlich wird dies auch in den Chats des Kurator*innen und Direktionsteam, die an dünnen Fäden verteilt im Ausstellungsraum hängen, ja fast wie Gedankenwolken über der gesamten Ausstellung schweben.
Ja, sie ist schrill und laut, die Ausstellung, die zum Reflektieren und Diskutieren anregen will. Sie ist aber auch interaktiv. Im letzten Raum der Ausstellung, dem Medienraum, dessen Wände mit Plakaten tapeziert sind, gibt es PC-Spiele, man kann sich Filmszenen anschauen oder Comics lesen.
Bevor man aber in diesen letzten Raum gelangt, geht es durch den Teil der Ausstellung, der etwas schwerer zu verdauen ist. Auf großen weißen Plakaten hängen Zitate – die letzten Zeugnisse von in der Shoah Ermordeten. Sie alle erwähnen ein Wort: Rache.
Wenn Ihr könnt, dann nehmt einst Rache.
Salomea Ochs
Besonders starken Eindruck hinterlassen die Worte von Salomea Ochs. Sie schrieb kurz vor ihrer Ermordung einen Abschiedsbrief, der mit den Worten »Wenn Ihr könnt, dann nehmt einst Rache« endet. Nicht weniger eindrücklich ist der Brief von Elieser Unger aus Bratislava, der am 2. Juni 1943, nachdem er der Ermordung zahlreicher Juden beiwohnen musste, schrieb: »Doch uns, Brüder, ist eine heilige Pflicht auferlegt, und unser Auftrag ist Rache.«
Darüber hinaus wird die Geschichte von David Frankfurter erzählt. Frankfurter gelang 1936 in das Haus von Wilhelm Gustloff, Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in Davos. Mit drei Kugeln tötete er Gustloff.
Die Ausstellung erinnert auch an den Partisanen Abba Kovner und seine Gruppe »Nakam«, die 1946 den Plan geschmiedet hatten, das Trinkwasser der Stadt Nürnberg zu vergiften. Sie wollten damit Rache an den Deutschen für die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden üben. Der Plan scheiterte. Stattdessen gelang es der Gruppe aber, 3.000 Brote mit Arsen zu versetzen, die dann in ein SS-Kriegsgefangenenlager geliefert wurden. Nach dem Verzehr zeigten mehrere Hundert Häftlinge Vergiftungssymptome, doch keiner von ihnen starb.
Die seit Jahrtausenden andauernde Gewalt gegen Jüdinnen und Juden löse nicht nur Angst und Trauer aus, sondern auch Wut und Empowerment, sagte Kurator Max Czollek vor der Führung. Nicht erst jetzt wird deutlich, dass der Topos Rache hier als Tool zur Selbstermächtigung verstanden werden soll – weg vom ständigen Versöhnen und Verzeihen und dem Opfernarrativ, hin zu dem Ziel, Gerechtigkeit durch eigenes Handeln herzustellen.
Die Ausstellung ist bis zum 17. Juli 2022 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main zu sehen. Zum Begleitprogramm gehören unter anderem ein Podcast, ein Artist-in-Residence-Programm und der Katalog, erschienen im Hanser Verlag.