Kein weißer Blick
Die jour fixe initiative berlin versucht, mit ihrem neuen Buch den Internationalismus zu retten
Von Kofi Shakur
Die jour fixe initiative berlin hat Großes vor: Ihr Ausgangspunkt bildet »häretisches, vergessenes oder unterdrücktes Denken im Süden wie im Norden, das vielleicht die Niederlagen und das Scheitern der antikolonialen Bewegung hätte abwenden können.« Mit ihrem Sammelband, den sie auf Grundlage einer Veranstaltungsreihe herausgeben hat, widmet sich die Initiative dem Dreiklang von Kolonialismus, Imperialismus und Internationalismus.
Mit 200 Seiten ist der Band für ein solches Vorhaben jedoch knapp bemessen und kann der ambitionierten Aufgabe kaum gerecht werden. Doch einige der hier aufgeworfenen Fragen und Perspektiven verdienen durchaus mehr Aufmerksamkeit, und es ist ein Verdienst dieses Buches, sie in den Fokus zu rücken. Dabei drehen sich die Beiträge auch immer um die Frage, wie universell eine globale Linke war und ist?
Streit in der Komintern
Die Beiträge von Brigitte Studer und Elfriede Müller über einzelne Kommunist*innen zeigen anhand der Biographien von M. N. Roy, Evelyn Trent und C. L. R. James sehr detailliert, dass auch innerhalb des organisierten Marxismus bereits ein Bewusstsein für Rassismus existierte. Die frühe Komintern setzte sich vor allem aus Exilant*innen zusammen, die sich dort als Teil der Weltrevolution sahen. Die Nationalisierung der kommunistischen Weltbewegung hatte zu dieser Zeit noch wenig Bedeutung. Denn der indische Komintern-Kader Roy und seine Frau Trent gründeten sowohl die mexikanische und die spanische Kommunistische Partei. Studer betont die Uneinigkeit in der Komintern, wie der Kolonialismus bekämpft werden könne. Roy etwa lehnte die später vorherrschende Ansicht ab, dass Kolonien zuerst ein Stadium bürgerlicher Demokratie durchlaufen müssten und hoffte auf eine Revolution durch die unteren Klassen. Dabei argumentierte er gegen Lenin, der eine Allianz mit Teilen des fortschrittlichen Bürgertums in den Kolonien für möglich hielt. Im Rahmen des Zweiten Weltkrieges wurde ein antifaschistisches Bündnis mit bürgerlichen Demokratien zur Priorität der Komintern, was antikoloniale Intellektuelle zum Bruch mit ihr zwang. Am Beispiel von Roys ehemaliger Frau Evelyn Trent, die eine prägende Rolle in seiner politischen Arbeit spielte und als theoretisch versierter als er galt, weist Studer auf die zentrale Rolle der Arbeit von Frauen in der Komintern hin. Ihr Anteil an dieser Politik ist zu großen Teilen schlecht dokumentiert. Umso bedeutender gerade für aktuelle Debatten, dass Clara Zetkins Kritik an der Exotisierung muslimischer Frauen Erwähnung findet.
Müller zeigt C. L. R. James wichtigste Themen in seinem Denken: Antikolonialismus und kommunistische Politik. Dabei verfolgt sie seine Positionen vom frühen Trotzkismus bis zum Zerfall der Sowjetunion. Aus dem anfänglichen Sportjournalisten, der über Cricket schrieb, wurde einer der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.
Als Organisator und Theoretiker begleitete James den Aufschwung der antikolonialen Bewegungen. Mit seiner wegweisenden historischen Studie »Die schwarzen Jakobiner« hat er ein Standardwerk über die haitianische Revolution vorgelegt. Müller argumentiert, dass er mit dem Buch über den ersten erfolgreichen Sklav*innenaufstand der Moderne die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution aufzeigte. Wie auch Walter Rodney und Frantz Fanon kritisierte James postkoloniale Regime, die ihre Legitimation durch nationale Befreiung begründeten, aber den kolonialen Staatsapparat unverändert übernahmen. Er betätigte sich auch als marxistischer Kulturtheoretiker und -produzent, wie Elfriede Müller schreibt, und stellte damit »Adorno vom Kopf auf die Füße«.
Dabei drehen sich die Beiträge auch immer um die Frage, wie universell eine globale Linke war und ist?
Der Beitrag von Maria Paula Meneses über das revolutionäre Potenzial des mosambikanischen Befreiungskampfes der Frelimo versucht Antikolonialismus in seiner eigenen Praxis zu verstehen. In den befreiten Gebieten wollte Frelimo einen »neuen Menschen« und eine neue Gesellschaft aus den Trümmern der portugiesischen Kolonie erschaffen. Jedoch stellt Meneses entgegen dem klaren Bekenntnis des ermordeten Parteiführers Eduardo Mondlane zum Marxismus-Leninismus auch eine Verbindung zu Theorien des afrikanischen Sozialismus dar und bezieht sich dabei besonders auf Léopold Sédar Senghor und Julius Nyerere, die späteren Präsidenten des Senegal und Tansanias. Eine schärfere Abgrenzung der Begriffe Marxismus-Leninismus und seinem festen Theoriegebäude sowie dem afrikanischem Sozialismus voneinander, der sich durch eine Kombination vieler Bezüge, etwa vorkolonialer Gesellschaften, speiste, hätte dem Beitrag zu mehr Klarheit verholfen. Dadurch wird die Trennung von kommunistischer Weltbewegung und dem Antikolonialismus nicht klar, verwarf der afrikanische Sozialismus im Sinne der nationalen Einheit den Klassenkampf und idealisierte oft genug die vorkoloniale Zeit. Spannender wäre der Beitrag gewesen, wenn er im Sinne des von Nora Sternfeld geforderten »situierten Universalismus« die Politik der Frelimo untersucht hätte, um so den scheinbaren Widerspruch zwischen Marxismus und »Epistemologien des Südens« aufzulösen. Sternfeld beschreibt politische Subjektivierung vor dem Hintergrund einer spezifischen Unterdrückung, aus der heraus Befreiung erst möglich wird, aber über das Partikulare hinausgeht und es universalisiert.
Neuer Imperialismus, neue Bewegungen?
Zwei Beiträge befassen sich mit den deutschen Verhältnissen in Bezug auf Internationalismus und Rassismus. Vincent Bababoutilabo und Laura Frey beschäftigen sich mit dem staatlich verordneten Internationalismus in der DDR, der keinen Platz für einen zwischenmenschlichen Alltag unter antirassistischen Vorzeichen ließ. Stefan Vogt, der die empirischen Überschneidungen und Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus nachzeichnet, findet vor allem im Kolonialismus Verbindungen von beiden. Lutz Fiedler nähert sich dem Verhältnis von Rassismus mutiger als Vogt. Er schreibt über die Fanon-Lektüre des jüdischen Essayisten und Shoah-Überlebenden Jean Améry. Erst in Annäherung und später in Abgrenzung zu Fanon bestimmte er das Verhältnis von jüdischem und antikolonialem Widerstand im Kontext von Shoah und Ghetto. Während Améry die Gewalt als buchstäblichen Befreiungsschlag empfand, bot sie in seinem späteren Denken fernab jeder Befreiung die Möglichkeit eines selbstbestimmten Todes. Ähnlich argumentiert die jüngst in den USA populären gewordene Denkschule des Afropessimismus, der die Möglichkeit von Emanzipation und Befreiung negiert.
Paul Dziedzic sucht in seinem Beitrag nach neuen Erscheinungsformen des Imperialismus und nach einer Theorie, die ihn fassen und internationale Kämpfe dagegen verbinden könnte. Eine theoretische Fundierung hätte dem Imperialismusbegriff von Dziedzic gut getan, die vielen offenen Fragen, die der Autor stellt, wären vielleicht nicht aufgekommen. Andererseits: Für seinen Anspruch, globale Kämpfe analytisch zu verbinden, hätte er einen so umkämpften Begriff wie Imperialismus gar nicht einführen müssen. Die USA, die Türkei, Indien, Russland und China lässt er zudem global als gleichwertig erscheinen und läuft dadurch Gefahr, die Unterschiede zwischen ihren Positionen auf dem Weltmarkt sowie ihre Verhältnisse untereinander unscharf werden zu lassen.
Das Verdienst der jour fixe initiative ist, dass sie vergessene antikoloniale Theorie und Praxis ins Gedächtnis ruft. Die Autor*innen suchen nach Gemeinsamkeiten und Verbindungen, dadurch kann vielleicht ein neuer Universalismus entstehen. Aber manche Differenz in Theorie und Praxis bleibt trotzdem unüberbrückbar.
jour fixe initiative berlin (Hg.): Kreolische Konstellationen. Kolonialismus Imperialismus Internationalismus. edition assemblage, Münster 2023. 168 Seiten 16 EUR.