Immerhin erwähnt
Von Elena Schmidt
Am Ende dieses unsäglichen Jahres hat das deutsche Gesundheitssystem noch ein letztes Mal für unruhigen Atem gesorgt: Eine neue Richtlinie zur Behandlung von »Transsexualität« ist erschienen. Überarbeitungen von Formalien mögen anderswo Routine sein, bei diesem Thema kriecht der bürokratische Apparat dem medizinischen Konsens im Schneckentempo hinterher. Als der medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) 2008 die letzten Richtlinien veröffentlichte, war George Bush noch Präsident in den Vereinigten Staaten – Junior, auch wenn es nach dem Inhalt genauso gut Senior sein könnte. Wie viel hat sich seitdem geändert?
Nicht sonderlich viel. So hat man sich nach zwölf Jahren entschlossen, nichtbinäre Menschen endlich auch einmal zu erwähnen – aber nur, um klarzustellen, dass sie immer noch nichts zu erwarten haben. Indem sich auf eine veraltete Definition der behandelten Diagnose berufen wird, kann dieses »Problem« bequem auf andere Einrichtungen abgeschoben werden. Motto: Wir würden ja gerne etwas für euch tun, aber wir wollen nicht. Natürlich kann es als positives Zeichen gesehen werden, wenn selbst eine Institution wie der MDK die Existenz von nichtbinären Identitäten nicht mehr leugnen kann. Damit legt man aber an eine nationale Institution denselben Maßstab an wie an drittklassige Comedians: Ist schön, wenn ihr wisst, dass es uns gibt, aber bitte hört auf zu reden. Die Kinder weinen schon.
Generell liest sich die neue, verbesserte Richtlinie wie meine Einkaufsliste am Monatsende – fast nichts wird kategorisch ausgeschlossen, aber selten kommt ein Abschnitt ohne Verweis auf das Budget aus. Auch 2008 begann der Text mit einer breiten Erläuterung, warum Transsexualität überhaupt in den Zuständigkeitsbereich der Krankenkassen falle und warum dafür Geld ausgegeben werden müsse. Nirgendwo fiel damals aber ein Wort wie »Wirtschaftlichkeitsgebot«. Waren trans Leute 2008 noch wenig verstandene, sonderbare Grenzfälle der Medizin, die es gründlich zu begutachten galt, sind wir 2020 endlich normalisiert genug, um »nur noch« wie alle Anderen kaputtgespart zu werden. Vorbei sind die Zeiten, als unsere medizinischen Behandlungen als absurd abgetan wurden, weil ihre Gründe nicht vollständig verstanden wurden. Jetzt werden sie als absurd abgetan, weil sie zu viel kosten.
Eine Richtlinie, der die Wirtschaftskrise ins Gesicht geschrieben ist – die Pandemie jedoch nicht. So sehr sich auf vermeintlich wirtschaftliche Realitäten berufen wird, wenn es um die Kürzung von Leistungen geht, so wenig Augenmerk wird auf die Lebensrealität gelegt, die für uns alle eigentlich offensichtlich sein sollte. Behandelnde Ärzt*innen sind wegen der Pandemie schwieriger zu finden als
Tarantinofans mit einwandfreiem Frauenbild. Das waren sie auch vorher schon, wenn es um Transangelegenheiten ging, jetzt ist es noch schlimmer. Beim Gedanken, Monate und Jahre länger auf einen Platz für die immer noch vorgeschriebene Therapie zu warten, nur um dann vor einem potenziellen Coronaleugner die eigene Lebensgeschichte ausschütten zu sollen, graust es nicht nur mir. Deshalb kann sich auf dem Papier verbessert haben, was will: Solange trans Menschen für beispielsweise Hormontherapie nicht nur einen Termin bei einer Endokrinologie, sondern auch einen Therapieplatz brauchen, wird sich an den tatsächlichen Wartezeiten nichts ändern. Die Richtlinien haben die Zeit des vorgeschriebenen Alltagstests in mindestens einem Fall, der Mastektomie, um ganze zwölf Monate verringert. Trans Leuten, die ohne Therapieplatz und Behandlung vor sich hinsiechen, wird das nichts nützen.
Wie überall seit Beginn der Pandemie wird auch von trans Menschen erwartet, dass sie dem absoluten Zusammenbruch der Strukturen um sie herum nachsehen müssten. Diese Krise hat uns alle sehr hart getroffen, am allermeisten aber die Einrichtungen, die über unsere Leben bestimmen und ihr Nichtstun in der Krise damit begründen wollen, dass sie genauso überrumpelt wären wie wir. Beim Blick auf maskenschneidernde Freiwillige auf der einen und Gesundheitsverbände auf der anderen Seite, die eine bald einjährige Pandemie nicht in ihren Entscheidungen berücksichtigen, klingt das gehörig nach Anmaßung.