Ideengeber und Antreiber
Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels geboren – was bleibt von seinem Werk?
Von Georg Fülberth
Nicht erst anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels am 28. November ist sein Werk wie eine Art Trampolin genutzt worden: Menschen, die sich vernünftige Ziele gesetzt hatten, suchten sich Schriften von ihm aus, die ihren Zwecken zupass kamen, und sprangen mit ihrer Hilfe vom 19. ins 21. Jahrhundert. Oder auch: Sie fanden in der Vergangenheit, was sie in der Gegenwart schon wussten. Elmar Altvater zum Beispiel hat zutreffend darauf hingewiesen, dass Engels den Zugriff des Kapitals auf die Biosphäre als Ursache von deren Bedrohung analysierte. Dieser Gedanke findet sich allerdings schon bei Marx: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (MEW 23: 529f.)
Ähnlich verhält es sich mit Engels‘ Zivilisations- und Patriarchatskritik in seiner Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« von 1884. Er erinnerte dort selbst daran, dass er sich dabei auf Materialien im Nachlass von Marx stützte. Vor ihm hatten schon 1869 John Stuart Mill, Harriet Taylor Mill und Helen Taylor mit dem Buch »Die Hörigkeit der Frau« eine radikale feministische Position vorgestellt.
Die von ihm in seinen späten Jahren entwickelte Sicht auf die Gefahren moderner Weltkriege hat Friedrich Engels unabhängig von Marx gefunden. Doch lag dieses Thema auch ohne ihn in der Luft. 1889 veröffentlichte Bertha von Suttner ihren Roman »Die Waffen nieder!«, und bis heute zitiert Oskar Lafontaine gern den 1914 ermordeten französischen Reformisten Jean Jaurès, wonach der Kapitalismus den Krieg in sich trage wie die Wolke den Regen.
Bleibende Lebensleistung: »Das Kapital« von Marx
Recht haben sie alle, und Engels war einer von ihnen. Aber seine bleibende Lebensleistung war »Das Kapital« von Karl Marx. Er ist nicht der Autor dieses Werks gewesen, aber sein Veranlasser und Betreiber, sein Entrepreneur – und zwar schon seit 1844, lange bevor es seinen späteren Namen erhielt. In diesem Jahr hatte er den Aufsatz »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« veröffentlicht, beeindruckt vom Elend des Proletariats in Barmen, seinem Geburtsort im heutigen Wuppertal, und Manchester, belesen in den Klassikern der bürgerlichen Nationalökonomie und angeleitet von Hegels Dialektik, etwa bei der Behandlung des Verhältnisses von Konkurrenz und Monopol.
Insofern konnte Engels als bestens ausgewiesen auf diesem Gebiet gelten. Umso überraschender muss ein Beschluss anmuten, den er und Karl Marx im Spätsommer 1844 trafen: Nicht Engels sollte als Letztbegründung einer proletarischen Revolution eine umfassende Kritik der Politischen Ökonomie schreiben, sondern Marx. Dies war eine unternehmerische Entscheidung von Engels, der wie sein Vater (ein von ihm ansonsten immer wieder beschimpfter pietistischer Fabrikant) eine feine Nase für sinnvolle Investitionen hatte. Er hatte eine Ressource entdeckt: das Gehirn von Karl Marx, das in ganz anderer, nämlich philosophisch genialer Weise die Ökonomie zu durchdringen vermochte.
Wenn Engels nun darauf verzichtete, das historisch-materialistische Grundlagenwerk zur Kritik der Politischen Ökonomie selber zu schreiben, verband er sich gleichzeitig mit diesem Projekt in einer anderen, besonders intensiven Weise: als sein Impresario. Das italienische Wort könnte man mit einem deutschen übersetzen: Unternehmer. Aber es bedeutet zugleich noch etwas anderes: Ideengeber, Antreiber, Manager und Propagandist.
Beginnend im Jahr 1844 hat Engels Marx jahrzehntelang gedrängt, »Das Kapital« zu verfassen, und ihm alle anderen Arbeiten möglichst vom Hals gehalten. In seinem Verhältnis zum gemeinsamen Projekt verhielt er sich wie ein klassischer Unternehmer in der Zeit der industriellen Revolution. Marx hat das selbst so aufgefasst. 1865 zeigte er sich bedrückt, weil er Engels wieder einmal um Geld bitten musste, erklärte dies aber dann so, »daß wir zwei ein Compagniegeschäft betreiben, wo ich meine Zeit für den theoretischen und Parteiteil des business gebe.« (MEW 31: 131)
Das war in der Zeit, als Engels in Manchester erst als eine Art leitender Angestellter, dann als Kapitalist in der Firma Ermen & Engels weitgehend für den gemeinsamen Lebensunterhalt sorgen musste. 1870, nachdem er 1869 seinen Anteil an dem Unternehmen verkauft hatte und nach London gezogen war, übernahm er auch noch den größeren Part der politischen Arbeit, damit Marx mit der Fortsetzung des »Kapital« weiterkam.
Ohne Engels kein Marxismus
Wenn er doch nur nicht so bescheiden gewesen wäre! Friedrich Engels, geboren 1820, wird bis heute unterschätzt, findet Michael Krätke – und schlimmer noch: »Engels-Verächter« betreiben »Engels-Bashing«, nachdem der Marxismus-Leninismus vergangener Zeiten aus Marx und Engels »eine Art heilige Zweifaltigkeit fabriziert« hat. Dass beides dem großen Revolutionär nicht gerecht wird, arbeitet der Autor überzeugend heraus. Ohne Engels kein Marxismus und auch kein zweiter und dritter Band von »Das Kapital«. Für Marx war Engels Freund, Mäzen, Kritiker, Ko-Autor, anfangs auch Ghostwriter. Und nicht zuletzt derjenige, der den Philosophen auf die Bedeutung der Ökonomie hinwies: Marx »lernte zu Anfang weit mehr von Engels als umgekehrt«. An manchen Stellen scheint Krätke regelrecht verliebt in seinen Helden, die »rheinische Frohnatur« mit Weinkeller, das Sprachgenie und wandelnde »Universallexikon« (Marx) mit tiefen Kenntnissen der Naturwissenschaften. Auch habe Engels »ungeniert« betont, »wie oft und wie sehr er und Marx sich geirrt hatten«. Ein sympathischer Typ, mit dem man gern mal einen getrunken hätte. Auf Krätkes Essay folgen, auf knapp zwei Dritteln des Gesamtumfangs, Texte von Engels, darunter ein längerer Auszug aus »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«. Abgeschlossen wird das Buch mit persönlichen Erinnerungen von Paul Lafargue. Sie enden mit dem Satz: »Engels und Marx hatten kein Vaterland; sie waren nach Marx‘ Ausspruch Weltbürger.«
Jens Renner
Michael Krätke (Hg.): Friedrich Engels oder: Wie ein »Cotton-Lord« den Marxismus erfand. Dietz, Berlin 2020. 200 Seiten, 12 EUR.
Diese Art der Zusammenarbeit ist die typische Form der geschäftlichen Partnerschaft in jener Zeit gewesen: Ein Erfinder ohne Kapital – zum Beispiel James Watt – benötigte und fand einen Geldgeber (bei Watt waren es die Investoren John Roebuck und danach Matthew Boulton), der somit Miteigentümer wurde, und so entstand in der Dampfmaschinen-Industrie das Unternehmen Boulton & Watt und in der Politik die Firma (=Zwei-Mann-Partei) Marx & Engels.
Die Firma Marx & Engels
Investoren waren damals oft nicht nur Geldgeber, sondern selbst Techniker. Aufgrund ihres Knowhow sind sie imstande gewesen, ihre Investitionsentscheidungen zu treffen. Soweit sie Produktionsprozesse organisierten und vorantrieben, waren sie das, was Marx später im »Kapital« als »fungierende Kapitalisten« bezeichnete. Insofern beschränkte sich Engels in der Firma Marx & Engels nicht aufs Investieren, sondern er produzierte mit, unter anderem mit ständiger Diskussion.
Sein Produktionsanteil musste ab 1883, als Marx starb, wachsen. »Das Kapital« war in seinem Großteil unveröffentlicht geblieben, und Engels hatte die Aufgabe, das, was liegen geblieben war, so herauszubringen, dass die Arbeiterbewegung und die wissenschaftliche Öffentlichkeit etwas damit anfangen konnten. 1885 veröffentlichte er den zweiten, 1894 den dritten Band. Und das war immer noch nicht alles. Als er absah, dass seine Lebenszeit nicht ausreichen werde, auch die »Theorien über den Mehrwert« zu edieren, weihte er die sozialdemokratischen Theoretiker Eduard Bernstein (1850-1932) und Karl Kautsky (1854-1938) in die Klaue von Marx ein, sodass später einer von ihnen – es war dann Kautsky – das erledigen konnte.
Nachdem wir festgestellt haben, dass »Das Kapital« die Lebensleistung auch von Engels gewesen ist, können wir uns der Frage nach der Aktualität der beiden zuwenden. Kritik der Politischen Ökonomie war für sie ein Mittel zum Zweck der Revolution. Seit einigen Jahrzehnten bemüht sich die Gelehrtengemeinschaft der »Neuen Kapital-Lektüre« um den Nachweis, dieses Werk zeige nicht, wie der Kapitalismus beseitigt werden könne, sondern wie er funktioniere. Somit hätten Marx und Engels – abweichend von der elften Feuerbach-These – die Welt nicht verändert, sondern interpretiert. Doch selbst an dieser Leistung hätte Engels den gleichen Anteil wie Marx gehabt.
Im Übrigen wechseln komplexe Werke ihre Lesart mit den Zeitläufen. Revolutionäre Epochen könnten auch die Interpretation des »Kapital« umstülpen. Aktualität ist insofern nicht nur eine Frage der Gegenwart, sondern auch der Zukunft. Ach so, fast hätte ich es vergessen: Das ist Dialektik.