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|ak 707 | Geschichte

»Ich hab’s halt gemacht.«

Ursula Sillge ist eine zentrale Figur der DDR-Lesbenbewegung – ihr Engagement hinterlässt bis heute Spuren

Von Mowa Techen

Drei Travestie-Künstler*innen in FDJ Hemden
Der Sonntags-Club war Treffpunkt der queeren Szene; auch für Travestie-Künstler*innen. Foto: Sonntags Club e.V.

In einer unscheinbaren Einfamilienhaussiedlung im Süden Thüringens wohnt Ursula Sillge mit ihrer Partnerin Ingeborg Buck. Sillge setzte sich jahrzehntelang für ein besseres Leben für Lesben in der DDR ein und nahm dafür auch Repression durch die Stasi in Kauf. Heute lebt sie mit ihrer Partnerin in Meiningen. Im Gespräch mit ak berichtet sie von der DDR-Lesbenbewegung, die auch in ihrem damaligen Wohnzimmer in Ostberlin entstand. Doch wer nun eine ikonische Held*innengeschichte erwartet, wird enttäuscht. Im Gegenteil: Immer wieder resümiert sie pragmatisch »Na wie hab ich das gemacht? Ich hab’s halt gemacht.«

1946 wird Ursula Sillge im Thüringer Untermaßfeld geboren. Sie macht eine Ausbildung zur Facharbeiterin für Rinderzucht, wird staatlich geprüfte Landwirtin, 1966 schließlich Lehrausbilderin in Milz. Zeitgleich ist sie in Suhl im »Zirkel schreibender Arbeiter« und in der Bauernpartei.

Mit Anfang zwanzig verlässt Sillge Thüringen, denn sie »wollte was von der Welt sehen«. Kurzerhand fährt sie nach Berlin an die Friedrichstraße, dort sitzt das Bauernecho, das Organ der Bauernpartei. Sie stellt sich vor, meint, sie würde gerne für die Zeitung schreiben. Überrumpelt lässt der Verlagsleiter sie die Volontär*innenprüfung machen, schickt sie anschließend kurz raus. Als sie ihre Bockwurst an der Friedrichstraße aufgegessen hat und die Redaktionsräume betritt, wird sie eingestellt.

Ich hab ja vorher versucht, ob hetero klappt. Klappte aber nicht.

Ursula Sillge

Durch eine Mischung aus Glück und Hartnäckigkeit kommt die Landwirtin Ursula Sillge an einen weiterbildenden Studienplatz: Tierproduktion. Während ihres Studiums bekommt sie ein Kind, zugleich wird ihr bewusst, dass sie Frauen liebt und gerne mit ihnen zusammen ist. Oder wie sie es formuliert: »Ich hab ja vorher versucht, ob hetero klappt. Klappte aber nicht«. In dieser Zeit macht sie auch ihre erste schwule Bekanntschaft: ihr Kommilitone Ulrich, der sie in die queeren Kreise Ostberlins einführt. Ab da wird Ursula Sillges Leben Teil der queeren Bewegungsgeschichte der DDR.

Theoretisch gleichberechtigt

1968 schafft die DDR, den Paragrafen 175 ab. Dieser hatte gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen von Männern unter Strafe gestellt. Eingeführt wird dagegen der diskriminierende Paragraf 151, der ein höheres Schutzalter für gleichgeschlechtlichen Sex vorsieht als für Hetero-Sex – auch für Frauen.

Zwischen Aktiven aus Ost- und Westberlin gab es bereits vor dem Mauerfall regen Austausch und auch in Ostberlin wird Westfernsehen empfangen: so schauen die besagten Berliner Kreise 1973 den in der ARD ausgestrahlten Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt«. Der Film von Rosa von Praunheim gilt bis heute als die Geburtsstunde der modernen Lesben- und Schwulenbewegung, besonders in Westdeutschland. Doch auch in der DDR wird das Motto »Raus aus den Klappen, rein in die Straße« ernst genommen. Fünf Jahre nach der Einführung des Paragrafen 151 und zwei Wochen nach der Ausstrahlung des Films, gründet sich die erste Lesbisch-schwule Selbstorganisation: die Homosexuelle Interessensgemeinschaft Berlin (HIB).

In einem Staat, in dem sexualpolitisch das heterosexuelle Familienideal vorherrscht und der zutiefst misstrauisch gegenüber nicht-staatlichen Vereinen ist, haben die Gründer*innen keine leichte Aufgabe. Ursula Sillge ist am Rand dabei, andere Aktive sind Peter Rausch, Michael Eggert und Charlotte von Mahlsdorf.

1978 ergreift Ursula Sillge selbst die Initiative und lädt gemeinsam mit einer Freundin am 8. April zum ersten DDR-weiten Lesbentreffen. Ort ist das »Gründerzeitmuseum«, das Charlotte von Mahlsdorf betreibt und das einer der Treffpunkte queeren Lebens in der DDR ist. Es kommen über 100 Menschen, aber auch die staatlichen Behörden. Als diese den Ort versperren, verteilen sich die eingeladenen »alleinstehenden Kolleginnen« auf eine Kneipe und die Wohnung von Sillge.

Lesbisches Leben in der DDR ist auch ohne gesellschaftliches Engagement kompliziert.

Das hat Folgen: Sillge und ihre Mitstreiter*innen waren schon vorher auf dem Radar der Behörden, nun wird es repressiver. Trotz hoher Qualifikation findet Ursula Sillge schwer eine Arbeit, wird von der Stasi ausgespäht, muss zeitweise ihre Wohnung an Bauarbeiter auf Montage vermieten und beschränkt ihr privates Leben auf ein Zimmer. Doch lesbisches Leben in der DDR ist auch ohne gesellschaftliches Engagement kompliziert: Nur vom Zufall ist es abhängig, ob eine Zeitungsannonce, in der eine Partnerin gesucht wird, durchgeht, Räume sind prekär und die Stasi nicht weit.

Für mehr vom Leben

Trotz alledem lehnt Ursula Sillge die DDR nicht rundweg ab. Es geht ihr darum, dass »man vernünftig leben kann in diesem Land«. Deutlich skeptischer sind jene, die sich unter dem Dach der Kirche ab den frühen 1980er Jahren organisieren. 1982 wird der Arbeitskreis Homosexualität in Leipzig ins Leben gerufen, vor allem durch schwule Männer. Noch im selben Jahr gründet sich die erste ostdeutsche Lesbengruppe: Der Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche. Sillge wählt allerdings einen anderen Weg, ohne Kirche: Erst informell im Wohnzimmer, bald in Räumen des Kulturbundes entwickelt sich der Sonntags-Club, der bis heute besteht.

Die 1980er Jahre sind auch das Jahrzehnt der gesellschaftlichen Liberalisierung in der DDR. In drei Konferenzen zu »Psychosozialen Aspekten der Homosexualität« befragt sich die DDR-Wissenschaft selbst zu ihrer Haltung zur Homosexualität, vereinzelt kommen auch die homosexuell Organisierten selbst zu Wort. 1988 wird der Paragraf 151 abgeschafft.

Nach dem Mauerfall veröffentlicht Sillge das Buch »(Un-) Sichtbare Frauen. Lesben und ihre Emanzipation in der DDR«. In diesem beschreibt sie nüchtern, was es für ein, ihrer Meinung nach, erfülltes queeres Leben braucht: gesicherten Wohnraum, politische und soziale Rechte, öffentliche Orte für Treffen, soziale Netze sowie Repräsentation und freie Teilnahme im öffentlichen Gespräch.

1996 zieht Ursula Sillge in ihrem Beitrag zum Sammelband »…viel zu viel verschwiegen« eine Bilanz des lesbischem Engagement in der DDR: »Das war das Ergebnis der vereinten Bemühungen von sehr vielen Leuten, wie ein Mosaik, ein Steinchen zum anderen, und im Endergebnis präsentierte sich dann eine relativ starke Bewegung.« Dass diese Bewegung nicht in Vergessenheit gerät, ist neben der Erinnerungsarbeit der Aktiven selbst, unter anderem der Forschung Maria Bühners und dem Dokumentarfilm »Uferfrauen« zu verdanken. Auch damals gegründete Räume, wie der Sonntags-Club, seit 1999 in der Greifenhagener Straße, sind noch heute Orte queeren Lebens und zeugen von den Kämpfen der Lesbenbewegung.

Wenn wir uns eines von Ursula Sillges Wirken abschauen können, dann mehr Bescheidenheit und Größenwahn gleichzeitig. Das eigene Werkeln nicht als Heldinnengeschichte zu erzählen, nicht alles revolutionär aufzublasen, aber doch im politischen Handeln für die fellow Queers auch immer auf das gute Leben für Alle zielen. In der Hoffnung, dass, mit Sillges Worten, »die Leute einmal besser leben können«.

Mowa Techen

arbeitet hin und wieder als freier Journalist und ist theoretisch wie praktisch von der Perversenbefreiung überzeugt.

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