analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 673 | Lesen

»Ich bin Anführer*in der Revolution«

Miriam Younes zeichnet die libanesischen Proteste nach – ein wichtiges Buch für internationalistische Linke

Von Jamal Iqrith

Die Proteste im Libanon hören nicht auf. Sicherheitskräfte haben Straßenblockaden um das Regierungsviertel errichtet. Foto: Freimut Bahlo/wikimedia , CC BY-SA 4.0

Am 17. Oktober 2019 erhob sich das Volk im Libanon, um Schluss zu machen mit der Herrschaft der Banken und dem konfessionellen System. Ursachen, Verlauf und Ziele der Massenproteste beschreibt Miriam Younes (Rosa-Luxemburg -Stiftung Beirut) in ihrem neuen Buch »Die Revolution des 17. Oktober«.

In sieben kenntnisreichen und gut lesbaren Kapiteln beschreibt Younes die wichtigsten Stationen der libanesischen »Revolution des 17. Oktober«, führt die zentralen Akteur*innen ein und erläutert den komplexen Kontext der Massenproteste, die in Beirut und auch in anderen Städten wie Tripoli und Nabatieh als Teil einer zweiten Welle von Protestbewegungen in der Mena-Region (1) nach 2011 begannen. Zum historischen Kontext der Proteste gehören auch die Entstehung des modernen libanesischen Staates im 20. Jahrhundert unter kolonialen Vorzeichen und der verheerende Bürgerkrieg (1975 bis 1990), die Younes analytisch klar darstellt und Leser*innen, die sich noch nicht eingehend mit dem Libanon beschäftigt haben, näherbringt. Insbesondere das zweite Kapitel ist ergiebig, da es die sozialen Mobilisierungen im Libanon seit 2011 als Vorläufer der Revolution ausweist und so mit dem Irrglauben bricht, Revolutionen seien »unorganisierte« oder isoliert stattfindende Eruptionen. Als Ursachen der »Revolution«, die Younes zwar mit Anführungszeichen versieht, aber trotzdem bestätigt, identifiziert sie vor allem das konfessionelle politische System im Libanon, die überall grassierende Korruption, crony capitalism (2) und die »Herrschaft der Banken«.

»Nieder mit den Banken und der Unterdrückung!«

Nach der Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat am Hafen von Beirut im August 2020 hatte die konfessionsübergreifende und erstaunlich breit aufgestellte Bewegung nochmal Aufschwung erhalten, war danach aber unter anderem wegen der Corona-Maßnahmen und der staatlichen Repression etwas zerfallen. Doch Younes weist die Leser*innen auf einen wichtigen Punkt hin: Das revolutionäre Potenzial im Libanon ist keinesfalls aufgebraucht, es schlummert und ist bereit zum Ausbruch, auch weil die Probleme noch nicht behoben und die Gesellschaft noch nicht grundlegend verändert wurde. Darüber hinaus hat sich die wirtschaftliche Situation im Libanon seit der Revolution massiv verschlechtert: So kommt es inzwischen zu regelmäßigen langanhaltenden Stromausfällen, die Apotheken können selbst grundlegende Hygieneartikel und Medikamente nicht mehr bereitstellen, die Libanesische Lira hat mehr als 90 Prozent ihres Werts verloren, es gibt lange Schlangen für Benzin und Nahrungsmittel, und die Arbeitslosigkeit ist stark gestiegen. Andererseits weigern sich ausnahmslos alle Politiker*innen, Verantwortung für diese Situation und die Explosion zu übernehmen, was die Spannungen zwischen den Libanes*innen und der herrschenden Elite weiter belastet und eine erneute Erhebung der Massen unausweichlich macht.

Das revolutionäre Potenzial im Libanon ist keinesfalls aufgebraucht.

Wiedererstarkender Internationalismus

Im Zeichen eines (noch zaghaft) wiedererstarkenden Internationalismus in der deutschen radikalen Linken ist es zentral, dass wir uns mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen wie im Libanon beschäftigen, um solidarisch mit den kämpfenden Menschen vor Ort sein zu können. Es ist wichtig, von ihren Erfahrungen zu lernen. Bücher wie das vorliegende, die aus der Bewegung heraus oder zumindest nah daran geschrieben werden und deshalb ein authentisches Bild interner Debatten, Reflexionsprozesse und Widersprüche der Bewegungen zeichnen können, sind zentral für uns, wenn wir nicht isoliert bleiben wollen und wenn der Kampf für eine befreite Gesellschaft erfolgreich sein soll. Genau deshalb ist das neue Buch von Younes ein kleiner Beitrag zur Weiterführung der libanesischen Revolution und darüber hinaus lesenswert für alle, die von den Revolutionär*innen vor Ort lernen wollen oder eine bündige Einführung in die Geschichte und aktuelle sozio-ökonomische und politische Lage im Libanon suchen.

Jamal Iqrith

ist Internationalist und interessiert sich für soziale Bewegungen in der Mena-Region, antikolonialen Widerstand im Globalen Süden und Klassenkampf.

Miriam Younes: Die Revolution des 17. Oktober. Ursachen, Verlauf und Ziele der Massenproteste im Libanon. Unrast Verlag, Münster 2021. 160 Seiten, 14 EUR.

Anmerkungen:

1) Abkürzung für Middle East/North Africa, also mittlerer Osten und Nordafrika.

2) Crony Capitalism bezeichnet eine kapitalistische Konfiguration, bei der enge, »vetternwirtschaftliche« Beziehungen zwischen der politisch herrschenden Führung und dem Unternehmertum zentral sind.