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Hundert Jahre Gewalt

Arnold Zweigs neu aufgelegter Roman »De Vriendt kehrt heim« erzählt von der Vorgeschichte des Nahostkonflikts

Von Jens Renner

Straßenszene an einer Kreuzung, einige wenig Autos, auf den Gehsteigen Fußgänger*innen in der Mode der 1920er Jahre, im Bildzentrum ein weißes Gebäude.
Hier entspann sich der Nahostkonflikt: Jerusalem zur Zeit der britischen Mandatsherrschaft. Foto: gemeinfrei

Als »Weltliteratur und Kriminalroman von global-politischer Brisanz« bewirbt Die Andere Bibliothek Arnold Zweigs Roman »De Vriendt kehrt heim«. Das ist allenfalls geringfügig übertrieben. Denn das nun neu aufgelegte Werk, das erstmals 1932 erschien, ist zugleich, wie der Autor 1955 schrieb, der »erste historische Roman des Staates Israel«. Indem er reale Geschehnisse im Palästina der 1920er Jahre verarbeitet, hilft er, die Vorgeschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts zu verstehen.

Vorbild für Arnold Zweigs Protagonisten, den ultraorthodoxen Dichter Jizchak Josef de Vriendt, war der niederländische Jurist und Schriftsteller Jacob Israel de Haan, der 1924 in Jerusalem ermordet wurde. Jahrelang habe dieser Fall seine Fantasie beschäftigt, schrieb Arnold Zweig (1887-1968) später. Wie der reale de Haan ist auch Zweigs fiktiver de Vriendt ein Mensch voller Widersprüche: Antizionist, der Kontakte zu arabisch-muslimischen Honoratioren unterhält, »Kämpfer und Eiferer für den Geist der Thora«, zugleich ein »Liebhaber von Knaben«. Sollte das Verhältnis zu seinem Schüler, dem Araber Saûd, publik werden, dann wäre das für ihn »das Ende«, nicht nur wegen der gesellschaftlichen Ächtung. Morddrohungen gegen de Vriendt, von denen der britische Geheimagent Leonard B. Irmin erfährt, müssen ernst genommen werden. Schon als vorab verdächtig gelten: »die Araber«.

Der Mufti wünscht Tumulte nicht.

Dass es anders kommt, wird Krimi-Leser*innen nicht überraschen. Überhaupt erscheint manches konventionell in diesem Polit-Thriller, nicht zuletzt die Figur des britischen Ermittlers Irmin: Dieser ist ein Mastermind und kaltblütiger Agent, letztlich aber auf sich allein gestellt, weil die politische Macht im Mandatsgebiet Palästina nur formal in britischen Händen liegt. Denn, so der jüdische Arbeiter und Gewerkschaftsführer Nachman: »Die Araber fürchten die Juden und die Juden die Araber, und keiner von beiden fürchtet die Engländer.«

Die Vernunft der Greise

Sind also die Araber »die eigentlichen Herren des Landes«? Einige schon – die Reichen: »Eine kleine Zahl mächtiger Familien besitzt den Boden des Landes Palästina. Ihre Pächter seufzen und darben.« Steuern zahlen nur die Arbeiter*innen, und die in den Städten »erheben Ansprüche, wenn sie sehen, dass die arbeitenden Juden mehr verdienen als sie.« Besser also, dass alles bleibt, wie es ist, finden die Ausbeuter. Die »böse kurze Aufstandsbewegung von 1921 und 1922« darf sich nicht wiederholen – »der Mufti wünscht Tumulte nicht«. Als nützlich erweisen könnten sich dagegen öffentliche Bekundungen, »dass die arabischen Notabeln jederzeit für ein gerechtes und freundliches Zusammenleben mit den gottesfürchtigen Juden zu haben seien«. Die jungen arabischen Männer dagegen schwärmen für die »arabische Einheitsidee«, und der ständige Verweis der Alten auf die »arabische Friedlichkeit« geht ihnen gehörig gegen den Strich. Die Zitate stammen aus dem neunten Kapitel, überschrieben »Die Vernunft der Greise«, einer Art Protokoll der Versammlung reicher Araber in Jerusalem, die angesichts wachsender Spannungen zwischen den Bevölkerungsteilen um ihre Privilegien fürchten.

Auch in der jüdischen Community gibt es massive Differenzen, vor allem politischer Natur. Gängig sind auch Vorurteile, begründet mit den jeweiligen Herkunftsländern. Die einen verachten die »schlappschwänzigen, weichherzigen Deutsch-Juden und Austro-Juden«, anderen sind die russischen Einwander*innen unheimlich. Einer, der als Freiwilliger für den Zaren gekämpft hat, bekennt sich als »Militarist, ganz einfach, weil das Leben eine endlose Balgerei ist, und da will ich oben liegen.« Wieder andere grollen den »verhätschelten Lieblingen« des Zionismus, »dieser Arbeiterschaft mit ihren sozialistischen Einrichtungen, kommunistischen Siedlungen und Lebensformen und ihrer steten Bereitschaft zur Verständigung mit dem arabischen Volk«. Die jüdischen Kommunist*innen hingegen wollen weit mehr als nur Verständigung: den revolutionären Kampf gemeinsam mit den arabischen Massen und keinen »kleinbürgerlichen Agrarsozialismus«.

Staatengründung und Brudermord

Kontrovers wird unter Juden*Jüdinnen auch die Frage diskutiert, wer de Vriendt ermordet haben könnte. Ein politischer Mord innerhalb der eigenen Community? Der Philosoph Heinrich Klopfer will es nicht glauben: »Politischer Mord? In diesem Lande? Von Juden an einem Juden?« Zugleich weiß er: »Am Anfang jeder Staatengründung ein Brudermord.« Sein Gesprächspartner, der Ingenieur Eli Saamen, träumt von noch mehr Gewalt, um Transjordanien zu erobern, »wo unser Führer Mose begraben liegt und die Knochen unserer Vorväter in der Wüste verwehten.« Dass seitdem 3.500 Jahre vergangen sind, räumt er ein. Zugleich setzt er darauf, dass die festgefahrene Situation sich bald verändern könnte – »etwas liege in der Luft, die Araber würden bei nächster Gelegenheit bestimmt losgehen«.

Auslöser für eine Welle von Massakern durch beide Seiten ist ein Angriff von Muslimen auf den Tempelplatz in Jerusalem. Aber neben grauenhaften gibt es auch solidarische Taten: »Jüdische Arbeiter verteidigen eine Moschee gegen jüdische Angreifer, arabische Frauen decken jüdische Greise gegen die Messer arabischer Burschen.« Auch hier greift der Roman auf die Realität zurück – den arabischen Aufstand von 1929.

Trotz allem glaubt Irmin, nachdem er den Kriminalfall gelöst hat, weiter an den »großen Ausgleich«. Das tat auch der jüdische Antifaschist Arnold Zweig, der ab 1934 im Exil in Palästina lebte, bevor er 1948 nach Ostberlin zog. Meron Mendel, der die Neuauflage des Romans in einem brillanten Vorwort kommentiert, bezeichnet die Lektüre als »frisch und deprimierend zugleich«. Denn fast ein Jahrhundert nach den geschilderten Ereignissen »bleiben zwei Völker, die nebeneinander zu leben verdammt sind«. Dass es sich dabei keineswegs um monolithische Blöcke handelt, sondern auf beiden Seiten immer schon vielfache Widersprüche existierten, ist vielleicht die wichtigste Botschaft, die Arnold Zweig der Nachwelt mit seinem Roman hinterlassen hat.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim. Roman. Mit einem Vorwort von Meron Mendel. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024. 273 Seiten, 48 EUR.