Hundert Jahre Einsamkeit? Vier Vorschläge, wie man die Isolation übersteht
Von Jan Ole Arps, Paul Dziedzic, Bilke Schnibbe und Maike Zimmermann
Was tun, wenn man kaum noch Freund*innen treffen kann und das Haus nur noch zum Einkaufen verlässt? Wie hält man sich körperlich fit und schützt auch die psychische Gesundheit? Vier ak-Redakteur*innen verraten, wie sie das Beste aus Corona rausholen.
Trinken und Trainieren
Endlich muss ich mich mal nicht dafür rechtfertigen, gerne allein zu sein, denke ich und bin irgendwie ganz zufrieden damit. Eine Woche später folgt meine erste Verabredung zum digitalen Trinken. Zu meiner Überraschung bin ich total begeistert – und nach kürzester Zeit sternhagelvoll. Diese Erfahrung wiederholt sich in den darauffolgenden Tagen: Sich mit anderen Menschen auszutauschen, macht also doch richtig Spaß, und Jitsi-Trinken scheint mir das neue Wort für Druckbetankung zu sein.
Irgendwann kommt die Erkenntnis: Täglich zehn bis zwölf Stunden am Rechner sitzen und danach ab und an in die Online-Kneipe tut dem Körper auf Dauer nicht gut. Ich brauche ein neues Konzept. Vielleicht irgendwas mit Sport.
Erster Schritt: Ich hole meine Joggingschuhe ab, die ich vor langer Zeit irgendwo liegen lassen habe, und lasse sie dann eine Woche unberührt stehen. Ich hasse Laufen. Zweiter Schritt: Ich kaufe mir eine Yogamatte. Absolutes Must-have in Corona-Zeiten, sagt das Internet. Die packe ich zumindest aus und lege sie erst später in die Ecke. Dritter Schritt: Ich informiere mich auf YouTube über optimale Trainingsmöglichkeiten für zu Hause.
Das Internet ist voll mit den ultimativen Anleitungen zum perfekten Body. Nach dem Zufallsprinzip wähle ich Videos aus, die alle Ende März oder Anfang April entstanden sind. Den Anfang macht »Full Body HIIT Workout extrem«. Der Typ im Video redet viel und schnell. »Freunde, ich hoffe, euch ist bewusst, wo ihr gelandet seid: Willkommen in der Hölle.« So, so, naja, HIIT steht ja nicht umsonst für High Intensity Interval Training. Ich schalte den Ton ab und klicke mich durchs Video. Hmm, Standardübungen, so krass extrem scheint mir das nicht zu sein.
Nächstes Video: »Nichtspringer Bauch Beine Po Workout – Pssst!« Ja, genau, bloß nicht die Nachbarschaft stören … Sehr ähnliches Training, Fitnessübungen halt, genauso wie beim »Ganzkörper Bodyweight Training für Zuhause« und vielen anderen. Kann man alles machen, aber irgendwas stört mich. Und nach Video fünf oder sechs weiß ich auch, was: Bei dem Gedanken, dass ich vor dem Bildschirm diesen durchtrainierten Menschen hinterherhüpfe, fühle ich förmlich, wie mir Leggins, Stulpen und ein Stirnband wachsen. Auch die Musik in den Videos macht mich wahnsinnig.
Ich verschiebe das Training auf den nächsten Tag. Der beginnt mit einem Becher Kaffee. Auf Twitter lese ich, dass die Leute endlich mit der Selbstoptimierung aufhören sollen. Hängt doch einfach mal rum, steht da. Das überzeugt mich, ich bleibe für den Rest des Tages im Bett und denke nach. Es geht doch nicht darum, dass ich irgendwas erreichen muss, das ultimative Training finde, mit dem ich am effektivsten meinen Körper optimieren kann. Es geht um einen körperlichen Ausgleich, der vor allem eins können muss: mir Spaß machen. Alles andere ist auf Dauer Mist.
Mir fällt mein alter MP3-Player ein. Darauf sagt mir Bas Rutten schon seit über zehn Jahren, was ich am Sandsack tun soll. Warum sollte das nicht auch ohne Sandsack funktionieren? Ich gehe vor die Tür, ignoriere die Blicke und drücke auf Play: »Welcome to track two of the Thai Boxing CD. This track has 3-minutes-rounds with one minute rest. Keep moving at all times and keep your hands up. We are going to start in about 15 seconds.«
Expedition ins All
Ja ok, ich höre nicht erst Raumzeit, den besten Weltraumpodcast wo gibt, seit ich in Corona-Zeiten hauptsächlich auf dem Sofa hocke. Ich bin unabhängig von verordneter Isolation schon länger der Meinung, dass ich mich (und ihr euch!) dringend mit dem Weltraum beschäftigen muss. Ich meine in bummelig fünf Milliarden Jahren wird unsere Sonne zum roten Riesen, und bis dahin müssten wir mal dringend den Warp-Antrieb erfunden haben.
Bisher habe ich durch Raumzeit vor allem gelernt, dass Astrophysik eigentlich auch nichts anderes ist als die linke WG, in der alles, was schrott ist, mit Gaffatape geklebt wird. Astrophysiker*innen probieren rum, bis sie einen Weg gefunden haben, wie man die Gravitationswellen des Zillionen Lichtjahre entfernten explodierenden Doppelsternsystem mithilfe eines drei Kilometer langen Gebäudes auf der Erde messen kann.
In jeder Folge befragt Tim Pritlove (Schlands inoffizieller Podcast-Nerd-Gott) Wissenschaftler*innen zu verschiedenen kosmischen Dingen. Klassiker wie die Folge zu schwarzen Löchern stehen neben aufregenden Newcomer-Themen wie der Frage, ob die Erde wegen des ganzen Weltraumschrotts bald einen Ring hat wie der Saturn. Manche Folgen hören sich weg wie warme Semmeln, wiederum andere (besagte Folge zu den Gravitationswellen) habe ich drei Mal gehört und immer noch nicht kapiert. Es ist toll.
Ich meine, habt ihr gewusst, dass es in der Antarktis einen gigantomanischen 1 km³ großen Eisblock, den sogenannten IceCube, gibt, mit dem Neutrinos (so kleine Dinger, die zum Beispiel ins Weltall geschossen werden, wenn Sterne explodieren) gemessen werden? Die Theorie dazu, dass es Neutrinos geben muss, hat ein Typ in den 1950ern aufgestellt, und jetzt vor kurzem wurde seine Theorie mit besagtem Riesenklops bewiesen. Faszinierend!
Oder wusstet ihr, dass man an der chemischen Zusammensetzung eines Asteroiden erkennen kann, ob da, wo er herkommt, theoretisch gesehen Menschen leben könnten (ich sag nur Deuterium!)? Oder wusstet ihr, dass es Leute gibt, deren Job es ist, Riesenasteroiden abzuballern, bevor sie auf die Erde treffen, damit wir nicht so enden wie die Dinosaurier? Ok ja, das ist übertrieben, ihr Job ist eigentlich auszurechnen, ob man einen Asteroiden, der die Erde zermatschen würde, theoretisch gesehen abballern könnte. Aber ihr seht, das Weltall geht ab! Also lasst euch vom Raumzeit-Podcast in die schwerelosen Weiten der Astrophysik beamen. In 60 bis 120 Minuten richtig was erleben, ohne überhaupt das Haus zu verlassen. Mega!
Abstand halten
Wer hätte das gedacht: Ein echtes Problem der Kontaktbeschränkungen ist der fehlende Kontakt zu anderen Menschen. Jetzt merkt man erst, wie sehr man all die Leute vermisst, die einem sonst auf die Nerven gehen. Wenigstens sehe ich noch meine Mitbewohner*innen. Wir essen jetzt öfter zusammen, und wenn uns langweilig ist, betrinken wir uns. Am nächsten Tag klingeln dann die Nachbarn und geben uns – natürlich unter Einhaltung der 1,5m-Regel – kritisches Feedback zu unseren Gesangskünsten. Trotzdem: Man lernt das WG-Leben wieder zu schätzen.
Andererseits: Man wird auch misstrauischer miteinander. Unsere Corona-Regel lautet: kein Besuch in der Wohnung, und alle dürfen außerhalb der WG noch eine Person ihrer Wahl treffen, bei der sie aufs Abstandhalten pfeifen können. Einkaufen oder spazieren gehen wir natürlich, ein Mitbewohner muss weiter zur Arbeit (und dafür mit der U-Bahn durch die halbe Stadt fahren). Da es der Mitbewohner mit dem größten Argwohn gegen die geltenden Kontaktbeschränkungen ist, fragen wir Restlichen uns, wie viel Abstand er wohl zu seinen Kolleg*innen hält. Dann schämen wir uns, weil wir uns ausmalen, wie er sich über unsere Regeln lustig macht und mit seinen Kolleg*innen highfivet (bestimmt ohne Handschuhe!), obwohl er eben einfach zur Lohnarbeit muss. Verdächtig auch, dass die religiöse Mitbewohnerin über die Ostertage verschwunden ist. Besucht sie etwa irgendwo einen illegalen Gottesdienst inklusive Massengebet und Oblatenverkostung? Interessant, wie sich der Blockwart im eigenen Kopf plötzlich zu Wort meldet.
Um mein Sozialleben nicht völlig zu ruinieren, habe ich kürzlich eine Freundin zum Spazierengehen getroffen. Es war einer dieser sonnigen Tage, aber da auf Kreuzbergs Straßen so viel los war, schlug sie einen Nachtspaziergang vor. Mit Maske. Wir treffen uns also um halb elf an der Kreuzung, ich habe Bier dabei, aber sie hat keine Lust auf Bier im Gehen. Umarmung zur Begrüßung entfällt natürlich. Meine selbstgebastelte Maske ist so schlecht, dass ich nach kurzer Zeit Papierschnipsel im Mund habe, außerdem ist es schwierig, mit Maske zu trinken oder zu rauchen. Immerhin können wir mitten auf der Straße laufen. Nachts ist der sonst so belebte Wrangelkiez leer wie ein Dorf nach der Apokalypse, fehlt nur noch das Tumbleweed. Nach einer Stunde haben wir genug gesehen (nämlich: quasi nichts) und machen uns auf den Heimweg.
Das Treffen tat gut, aber es fehlt so vieles. Zwei Meter Abstand plus Maske machen es echt schwer, über Persönliches zu sprechen. Weil man die ganze Zeit laut und deutlich reden muss, fühlt es sich fast an wie ein Video-Call ohne Bildschirm. Kurzum: Es nervt! Das liegt auch daran, dass die Corona-Regeln der Freundin offenbar strenger sind als meine. Während ich mir zu Hause vorkomme wie ein Kontrollfreak, kriege ich hier das Gefühl, ich sei verantwortungslos. Die vielen Unbekannten in der Corona-Gleichung haben zur Folge, dass wir die Frage, was sinnvolle Sorge füreinander ist, alle nach eigenem Ermessen beantworten müssen. Und dass uns selbst in den nicht so intimen Beziehungen die unterschiedlichen Sicherheits-, Nähe- und Kontrollbedürfnisse um die Ohren fliegen können. Scheiß Corona! Wann können wir uns endlich wieder in den Arm nehmen?
Hallo 2024
Eigentlich mag ich dystopische Serien. Aber gerade ist das alles zu real. Es gibt so viele Szenarien, wie schrecklich alles werden kann. Ich brauche etwas Neues, etwas, was ich nicht schon tausend Mal gesehen habe und wovon es reichlich Folgen gibt. Deshalb greife ich zu einer Serie namens »Star Trek«.
Eigentlich war ich nie Star-Trek-Fan. Die Serie lief manchmal nachmittags im deutschen Fernsehen, und ich schaute mir die eine oder andere Folge an, aber ich fand sie immer so brav. 20 Jahre später, in Zeiten der sozialen Isolation, möchte ich auf einmal genau das. Die 1990er Jahre scheinen im Vergleich zu heutigen Filmen besonders hoffnungsvoll. In »Raumschiff Enterprise« und »Deep Space 9« geht es immer wieder darum, Konflikte friedlich und im Geiste der Kooperation zu lösen.
In Erinnerung bleibt mir insbesondere Folge 11 der zweiten Staffel, die 1995 ausgestrahlt wurde. Die Crew von Deep Space 9 landet auf der Erde des 21. Jahrhunderts. Eine soziale und ökonomische Krise hat den Planeten erschüttert, Menschen verlieren ihre Jobs an Maschinen und werden in Viertel abgeschoben, die von Mauern umgeben sind. Dort sind sie sich selbst überlassen und vom Rest der Gesellschaft vergessen. Hinter den Mauern tobt unter Arbeiter*innen die Konkurrenz, beim Kapital herrscht Gelassenheit. Es ist das Jahr 2024.
Diese Doppelfolge sticht heraus, denn sie ist viel düsterer und ernster als die anderen. Der Blick der Macher*innen auf die unmittelbare Zukunft ist pessimistisch, ihr Urteil über die Gesellschaft, in der wir heute leben, hart. Angesichts der bevorstehenden Krise wirkt diese Folge so … realistisch. Doch man darf optimistisch bleiben: Sollen die Menschen im 23. und 24. Jahrhundert tatsächlich das Weltall erkunden, muss der Aufstand bis dahin stattfinden und gelingen. Nur so kann die Welt entstehen, in der laut Capain Kirk »Geld keine Rolle mehr spielt« oder »der Erwerb von Reichtum nicht mehr die treibende Kraft unseres Lebens« ist. Anders gesagt, die kommunistische Utopie.
»Star Trek« schauen ist für mich nicht nur eine Möglichkeit abzuschalten – ich möchte glauben, es ist eine kleine Übung in Optimismus. Und weil »Star Trek« bekanntlich Inspiration für so einige abgespacete Erfindungen war, könnte es nun auch Vorbild für Aktionen im Jahr 2024 sein, oder?